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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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Himmelherrschaft, nur eine Stunde ohne Unterbrechung zeichnen – jeden Tag, oder ich sterbe. Die Unterarme klebten am Tisch, der Stift rutschte mir aus den Fingern. Ich saß in der Badehose im abgedunkelten Zimmer und achtete darauf, dass keine Schweißtropfen auf den Karton fielen. Fratzen, Grimassen, böse Geister. Das Messer, mit dem ich die schwarze Oberfläche bearbeitete, brachte Düsteres zutage. Regennasse Straßenszenen, ein unrasierter Mann mit Hut und einer SIG P210 im Anschlag, der über die Schulter nach seinen Verfolgern sah, übermäßiges Augenweiß, Panik; unversehens war ich mit der Negativtechnik in einen Film noir geraten. Nachtszenen: Bars, Verfolgungsjagden, dunkle Innenräume dunkler Straßenkreuzer, eine Schießerei, eine undurchsichtige Frauenfigur, schlangenhaft im schulterfreien Abendkleid, das Haar in großen Wellen auf Rücken und Schultern, ein Mikrofon in der Hand im grellen Kegel eines Scheinwerfers. Glitschige Frösche mit warziger Haut und geblähten Hälsen, Aale in Reusen, Lilienstängel, im Schlammwasser eng umschlungen, Seeschlangen, die sich in langen Wellen über die Schultern der schönen Barsängerin breiteten, Blütenblätter treiben im Schlammwasser der nebligen Großstadtnacht, und auf den Ausfallstraßen blasige Unken auf der Flucht.
    Das Wasser tropfte mir aus den Haarspitzen, fiel auf den gefärbten Karton und wischte die gelöste Tusche in die weißen Ritzen, die ich geschnitzt hatte. Wütend schob ich den Karton zu Boden, nahm mir einen neuen und begann von vorn. Und immer wenn ich tief in die Arbeit versunken war, schrie Lio und ich kümmerte mich um sie. Auf dem Balkon rauchte ich gegen den Hunger die letzte Zigarette. Angenehme Betäubung, bläuliche Rauchsäule, die in den Abendhimmel stieg. Ich musste raus. Mit Lio in der Karre machte ich mich auf den Weg. Still waren die staubigen Straßen, die Glut stand zwischen den Fassaden und bewegte sich nicht, würde sich auch diese Nacht nicht bewegen. Der beim Gehen entstehende Luftzug ließ mich schaudern, kühlte aber nicht. Schweißflecken auf der Brust und im Rücken, große Fladen unter den Armen. Ich blinzelte ins grelle Licht, dem ich entgegenging. Ziellos schob ich die Karre vor mir her und vermied es, auf Wege zu geraten, die bergauf führten, vermied es auch, ans Seeufer zu kommen, wo zwar Abkühlung zu finden wäre, aber auch die aussondernden Blicke der müßigen Sommergesellschaft, doch obgleich ich die Quais an See und Limmat umging, sahen uns die Leute allenthalben an, Frauen vor allem, ließen den Blick schnell vom Kind zu mir und zurück springen, scannten, taxierten, sortierten, und etwas veränderte sich in diesem Blick. Er wurde milder, auf hingebungsvolle Weise distanziert und abwesend in einem. Ich glotzte zurück. Ihre Neugier geriet in das undurchdringliche Gestrüpp meiner Echsenaugen und wand sich unter dem Basiliskenblick, schnellte weg und rutschte zu Boden. Es kostete mich viel, doch wenn ich mich entschloss, den Blicken standzuhalten, gewann ich jedes Mal. In einer Bar mit Kiosk hielten sich außer der Barfrau nur Männer auf. Ich kaufte Tabak und Papers und bestellte ein Bier, das ich mit dem ersten Schluck zur Hälfte austrank. Das Glas heben und noch einen, die Barfrau nickte und zapfte die zweite Stange. Es war stickig, lärmig und verraucht. Drei fusselige Typen redeten durcheinander, Musik spielte, und keiner wollte was von mir. Erst als es draußen dunkelte, ging ich nach Hause und war wie in der vergangenen Nacht froh, dass ich mich an der Karre festhalten konnte.
    Blauer Himmel beim Öffnen der Vorhänge, Schweißausbrüche schon am Vormittag, ich saß mit dem Kind bei geschlossenen Läden in der Wohnung, duschte mich nicht mehr, für wen, fragte ich mich, die Kleine lag im Hitzestau, wir klebten aneinander bei Tag und Nacht. Lios Wimmern vermengte sich mit meiner Unduldsamkeit, bis ich es nicht mehr aushielt, sie weglegte und auf den Balkon ging, um hinunterzusehen, um das normale Leben zu sehen und festzustellen, dass es außer uns beiden eine Welt gab, die funktionierte und uhrwerkartig weitertickte. Lio robbte herum, versuchte sich aufzusetzen, bis sie erschöpft und mit nass verklebtem Haar einschlief. Ich deckte sie zu und beobachtete das Zucken der Lider, das Rollen der Augäpfel hinter der papierdünnen, blau geäderten Haut, durch die wie dunkle Schatten die Pupillen schimmerten. Still sitzen, langsam atmen. Lios Augen hatten die Farbe überreifer Avodacos, ein dunkles

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