Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
geschoben. Alles an ihr wirkte frisch und ausgeruht. Ich versuchte zu lächeln, aber die Unbekümmertheit, mit der sie den Raum zwischen uns füllte, überrumpelte mich. So öffnete ich die Tür und ließ sie eintreten.
»Kaffee?«, fragte ich und hoffte, es würde beiläufig wirken und so, als ob wir uns schon lange kennten und ihr Besuch nichts Außergewöhnliches wäre. Als sie sich mit größter Selbstverständlichkeit an den Tisch setzte, auf dem noch die Tasse vom gestrigen Frühstück und Lios Schälchen mit verkrusteten Breiresten standen, die Beine auf den Stuhl neben sich legte, wobei sie die Sandalen von den Füßen schob, kam es mir vor, als verbände uns ein geheimes Einverständnis, als wären wir uns tatsächlich schon lange sehr nah.
»Mein Schultertuch«, sagte sie, »ich dachte, Lio braucht es nicht mehr, da wollte ich es holen.« Ich schraubte den Kaffeekocher zu und drehte die Gasflamme an.
»Kannst du kurz achtgeben, ich bin gleich zurück«, bat ich sie und ging zu Lio, die in ihrem Wagen lag und mich anlächelte. Sie brabbelte nicht, bewegte sich nicht, sondern lag ganz still da und lächelte ins weiße Tuch des Stubenwagens. Mit dem Daumen streichelte ich ihr über die Stirn, und sie richtete ihre Schielaugen auf mich. Lächelte wieder. Ich sprang in meine Jeans und zog ein frisches Hemd über, während ich ihr flüsternd erklärte, Josefine sei da, und ich käme gleich zurück. Im Bad warf ich mir Wasser ins Gesicht, dessen Kälte mir für einen Moment den Atem verschlug, dann prickelte alles, ich mied den tieferen Blick in den Spiegel, holte das Kind. Josefine sah in den Kühlschrank und fand einen Rest haltbare Milch, die wir wärmten und in den Kaffee schäumten. Sie nahm keinen Zucker und sagte, sie wolle auf dem Balkon sitzen. Der Hinterhof und die Fassade des Gebäudes lagen nach Nordwesten, sodass es auf dem Balkon noch schattig und kühl war. Sie rauchte und plauderte von ihrem Spaziergang durch die Stadt, der Stimmung, den Leuten, dem gestrigen Abend, ihrer Freundschaft zu Max, den sie hier kennengelernt hatte, aus den Augen verloren, seit sie wieder in München war, wo sie in einem der großen Architektenbüros gearbeitet hatte, als ganz kleines Licht, wie sie sagte, bis sie im Denkmalamt angefangen habe, aber das wisse ich ja schon. Ich sah in den Hof hinab, aber ich hörte jedes Wort, das sie sprach. Alles habe sich verlangsamt, sagte sie, und dass sie nicht mehr so getrieben sei, sondern mehr im Jetzt lebe, was eigenartig sei, da sie sich ja beruflich dauernd mit der Vergangenheit beschäftige. Ihre Offenheit gab mir den Mut, über Paule zu sprechen, die ich nur die Kindsmutter nannte, und dass sie Lio eine Ansichtskarte zum Geburtstag geschickt hatte. Nichts weiter. Wir erzählten, ohne dass wir einander gefragt hätten, doch war uns beiden klar, dass wir nun das Gespräch führten, das uns gestern in Gesellschaft nicht möglich gewesen war. Lio wippte auf meinem Knie und gluckste.
Ich sagte nichts.
Dann schwieg auch sie, und wir sahen auf die Autos hinab, die in der Sonne glänzten.
Dann fragte sie, ob sie meine Zeichnungen sehen könne. Ich setzte ihr das Kind auf den Schoß und ging nach drinnen. Feigling. Sagte ich zu mir selbst. Sprich von dir. Erzähl ihr was. Und ich ging zurück und begann von meiner Arbeit zu erzählen. Je mehr ich meine Kerntheorie vor ihr ausbreitete, je stiller und aufmerksamer sie zuhörte, umso mehr überzeugte ich mich selbst, dass alles gut würde, dass es weiterginge, dass es immer weiterging, vielleicht sogar mit ihr. Oh ja. Ich beobachtete ihre Lippen, die sich über den weißen Rand der Tasse stülpten und sich ein wenig der hellbraunen Flüssigkeit entgegenreckten. Ihre Augen verengten sich hinter der Rauchsäule der Zigarette zu Schlitzen, der dunkle Punkt auf ihrer Schläfe machte die ganze Partie der Brauen und des Haaransatzes zu einem orientalischen Ornament, und ich dachte wieder an den Regentag, den gelben Trench und meine Vermutung, sie sei nackt darunter.
»Du hast ein wunderbares Kind«, sagte sie und nahm mir den Mut, weiter über Lios Schicksal zu reden. So what. Dachte ich und ging in die Küche, um das Fläschchen zuzubereiten. Sie habe keine Kinder, sei noch zu früh …, wir sahen uns an. »Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob ich das könnte, ob ich verzichten könnte, auf all das.« Sie machte eine unbestimmte Bewegung, die die Autos, den Innenhof, die Bäume, den Himmel umfasste, und schwieg wieder. Lio gluckste,
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