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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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Grün, an den Rändern braun gefärbt, daran dachte ich, als ich das schlafende Kind betrachtete und mich gleichzeitig beobachtet fühlte. Auf dem Pantonefächer war ihre Augenfarbe nicht zu finden, was mich auf alberne Weise beruhigte, den Eindruck aber nicht milderte, sie würde durch das dünne Pergament der Lider sehen, ihr Blick krallte sich in meinen, als kennte sie mich seit Langem, kennte mich nicht nur, sondern durchschaute mich auch. Ich erschrak unmäßig und lief weg vom Kind auf den Balkon, wo ich im stechenden Ozon stand und mich entlarvt und schuldbeladen fühlte, wie ein Verbrecher. Als Lio jammerte, nahm ich sie auf den Arm, wir lächelten einander an, und ich fand darin ihre Ahnungslosigkeit, ihre Sprachlosigkeit wieder und die Gewissheit, dass das Lächeln das Erkennen zunichtemachte. Ich summte monoton, schaukelte und schwitzte, während ich auf nackten Füßen die Wohnung ausschritt. Auf und ab.
    Wie oft musste ich sie in den Schlaf wiegen in jenem heißen Sommer, doch während meiner endlosen Gänge von Fenster zu Fenster mit dem Kind auf dem Arm wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr daran dachte, wie es vorher gewesen war, mein Leben ohne sie. Ich stellte es mir nicht mehr ohne sie vor und noch nicht ohne sie, so weit war ich noch nicht. Es gab nur diese glühenden Tage, die dampfenden Nächte, das abgedunkelte Zimmer, das weinende Kind. Ein endloses Lullen, Wiegen und Brummen, ich wurde zum schaukelnden Resonanzkörper für Lios Verlorenheit, zu einer menschlichen Wiege für das fuchtelnde Wesen, dessen Wimmern dem Fiepen eines kleinen Tiers so ähnlich war. In einem einzigen Jahr der Hingabe an ihre kreatürlichen Bedürfnisse hatte ich alles, was mein Leben bislang war, weggelullt und weggebrummt. Für sie. Für mein erstes Kind. Mein einziges Kind. Und wenn der kleine Körper schwer wurde, sein Gewicht meinen Händen überließ, war fraglos alles in Ordnung, so wie es war. Wenn sie endlich schlief, löste ich sie mit angehaltenem Atem von Schulter und Wange, legte sie mit angehaltenem Atem in ihr Bett und hoffte, dass der Schlaf sie ausreichend weit weggetragen hatte, und sie den jähen Verlust meiner Körpernähe, das plötzliche Alleinsein nicht wahrnahm, doch kaum lag sie da, begann sie wieder zu wimmern, und ich legte sie wieder auf meine Brust, die mir inzwischen knochig und hart vorkam, setzte das Lullen fort, bis sie, leer geweint, endlich zwischen drei und vier Uhr morgens in einen brunnentiefen Schlaf stürzte. Matt lag ich daneben, lauschte dem Kind seinen Atemrhythmus ab, horchte auf die tonlose Leere in mir. Dumm und lall trieb ich an der Grenze des Schlafs entlang, kippte hinüber, hörte etwas, träumte, dass ich die Augen aufschlug, um besser lauschen zu können, und schlug die Augen auf.
    Weit entfernt fiepte etwas. Sehr leise. Vom Gehörgang kommend, breitete es sich in meinem Kopf aus, schnitt durch die Gehirnmasse, pickte an den Augäpfeln. Mein Dämmern und Denken sprangen wie Spiegelglas. Überwach setzte ich mich auf und horchte nach dem Kind. Es atmete in stillen Zügen. Ich saß reglos, lauschte angestrengt. Das Wimmern blieb. Es schien in meinem Kopf zu sein. Noch einmal horchte ich. Jetzt war es draußen. Dann war es im Korbwagen, wo Lio lag. Ich schlich zu ihr. Sie lag auf dem Rücken mit geschlossenem Mund, Arme und Beine von sich gestreckt, völlig hingegeben an den Schlaf. Langsam brachte ich mein Ohr dicht an ihr missmutiges Gesicht. Da. Wieder war es zu hören. Fein und nicht zu orten. Fern, weit weg, dann unglaublich nah, nicht nur sehr nah, sondern in mir drin, wie ein Seziermesser im Kopf. Ein feines Weinen, ein lang gezogener Ton, der plötzlich abriss und kurz darauf wieder einsetzte. Unverändert in Lautstärke und Tonhöhe. Dann riss er wieder ab. Was blieb, war ein schwaches Echo in meinem Kopf. Oder außerhalb? Unruhig ging ich ans Fenster. Die Fassaden der gegenüberliegenden Häuserzeile waren dunkel, ich lief auf den Balkon. Auch hier brannte nirgendwo Licht. Jetzt ans Fenster meines Schlafzimmers. Ein spätes Auto glitt geräuschlos die Straße hinunter. Der Gehweg war menschenleer. Krachend wurde ein Gang eingelegt, der Motor heulte auf, und der Wagen raste mit quietschenden Reifen davon. Stille wieder, das Wimmern blieb. Klackende Schritte unten, das leise Wischen von Badeschlappen, späte Besucher einer illegalen Bar. Als sie verschwunden waren, hielt ich mir die Ohren zu und wartete. Das Wimmern blieb. Ich ließ die Hände sinken, es war

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