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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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weg. Vor Anstrengung tat mir der Kopf weh. Da. Es war wieder da. Hinter mir. Doch Lio schlief unverändert mit gestreckten Armen und angespannter Miene. Ich legte mich ins Bett und packte mir ein Kissen aufs Ohr. Anhaltend und sehr leise, war das Wimmern wieder da, unterbrochen nur von kurzen Atempausen der Stille, in denen ich hoffte, es sei vorbei, bis es kurz darauf wieder einsetzte. Es war draußen. Es musste draußen sein.
    Ich schlüpfte in meine Kleider und lief auf die Straße hinunter, wo ich den Blick wieder über die Fassaden der umliegenden Häuser wandern ließ. Mehrstöckige Backsteinfassaden, einfache Mietskasernen aus der Zeit der Jahrhundertwende und der industriellen Revolution, die sich blockweise um einen Innenhof schlossen. Und alles, alles still. Ich lief die ganze Straße ab, dann die Quer- und Parallelstraßen, um das Wimmern ausfindig zu machen. Die niedrigeren, lang gezogenen Fassaden der Genossenschaftsbauten ebenso wie die Glasfronten der Bürogebäude und die wulstigen Sichtbetonfassaden der Siebzigerjahre mit ihren koniferenbewachsenen, wie geöffnete Schubladen gestapelten Balkonen. Kein Wimmern weit und breit. Ich lief weiter.
    Dunkle Fensterlöcher, nur vereinzelt brannte ein Licht. Immer wieder blieb ich minutenlang stehen und horchte angestrengt. Nichts. Sehr viel Stille, dann ein Streit in einer der Deutschschweizer Mundarten, die ich nicht verstand. Eine giftige Frauenstimme mit sich überschlagender Streitsucht am Ende der Sätze, unterbrochen von einer defensiven Männerstimme. Rechtfertigungen, die die Frau noch mehr aufbrachten, sie lauter und schriller werden ließen, bis der Mann das Rationalisieren sein ließ und verstummte. Dann klirrte etwas. Die Frau schrie weiter, worauf der Mann sehr langsam, sehr deutlich artikulierend sagte, sie solle still sein, was sie noch lauter machte. Schließlich krachte es, und ein Moment der Stille trat ein. In der das Kind wimmerte. Dann stritten die beiden weiter. Ich rannte zur Klingelanlage und drückte sämtliche Knöpfe. Schlagartig verstummte der Streit, und auch das Wimmern war weg. Um mich zu vergewissern, hielt ich mir im Gehen wieder die Ohren zu, nichts. Nur das Rauschen des Bluts, das Keuchen meines Atems und, übertragen von den Knochen, das dumpfe Tappen meiner Schritte, das Aufschlagen der Sohlen auf dem Asphalt, das einzelne Knacken gestern, als ein Junge mit dem Hammer einen Fischschädel zertrümmerte. Ein Zucken lief durch das sterbende Tier.
    Die dunkle Mauer des Parks auf dem Nachhauseweg, Moose und Flechten, der Schanzengraben grad hinter dem Männerbad, wo der Sog die Wasserpflanzen zog, wo glänzende Fischleiber flitzten, flussaufwärts schnellten. Wie lange Fühler standen Angeln ans Geländer gelehnt. Eine Mittvierzigerin, deren nackte Beine in hellbraunen Lederstiefeln steckten, wies ihren Sohn mit kurzen Kommandos an, den Fisch hochzuhalten, was ihm nicht gelang, der Fisch, noch immer am Angelhaken, zappelte, flutschte dem Jungen aus den Händen, peitschte und schlug die Luft. Er hatte ein grau-weißes Muster am Bauch und orangefarbene Kreise auf dem Rücken. Er solle den Fisch totschlagen. Jetzt. Der Junge zögerte, die Mutter befahl mit ungeduldigem Unterton in der lauter werdenden Stimme, bis er den Schädel zerhämmerte, doch etwas an der Aufnahme misslang und er musste den Fischkopf noch ein Mal zerschlagen, mit eingezogenen Lippen und einem Gesichtsausdruck, als wollte er weinen. Schon lange bewegte sich das Tier nicht mehr. Der Junge legte es in die Kühlbox und sah erwartungsvoll seine Mutter an, die die Kamera im Etui verstaute und zum Aufbruch drängte. Als der Junge mich bemerkte, senkte er den Kopf vor Scham und Verlegenheit darüber, dass ich zum Zeugen dieser Szene geworden war.
    Da hatte ich das Wimmern zum ersten Mal gehört. Dasselbe Wimmern wie jetzt, als ich in der brütenden Sommernacht zusammengesunken an der Fassade des Mehrfamilienhauses hockte und nach Luft schnappte wie der sterbende Fisch, die Haut von einem kalten, feuchten Film überzogen und orangefarbene Punkte vor den im geborstenen Schädel lose ruckenden Augen, sie hüpften und sprangen vor dem Schwarzgrau der wolkenlosen Dämmerung, die sich ins immer gleiche Azur färben würde, Kulisse eines weiteren unbarmherzigen Hitzetags.
    Ich floh zurück in die Wohnung, betrachte den Schlaf meines Kindes, duschte eiskalt und fiel mit nass glänzender Haut aufs Bett. Den Lichtwechsel verfolgte ich mit weit geöffneten Augen.

21
    So gings

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