Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
Vom Netzwerk:
aus?«, fragte ich trocken.
    »Mit Kindern und so. Wie sie sich entwickeln. Was sie lernen und wann sie was können müssen.«
    »Müssen«, echote ich.
    »Ja, wann sie laufen, wann sie sprechen und so.«
    »Und so«. Ich gab ihr keine Chance.
    »Schau die Ohren, wie süß. Die haben schon eine lustige Form. Die sehen doch als Kinder schon alt aus. Wie Alte, nicht wie echte Menschen.«
    »Wer? Die Ohren?«
    »Ach du!« Sie legte eine Hand auf meine Haare und wuschelte darin herum. »Du machst dich lustig über mich.«
    »Aber nein, wo denkst du hin!« Unsicher sah sie mich an. Dann sog sie die Luft ein, dass sich die Nasenflügel anlegten.
    »Okay. Die Behinderten«, stieß sie hervor.
    »Siehst du hier welche?«
    »Das sind doch so liebe Menschen, und wie schön muss es sein, immer Kind bleiben zu können.«
    »Da hast du recht!«, tat ich überrascht, »und sie machen es uns so leicht, uns gut zu fühlen. Normal und richtig.«
    »Genau.« Sie schien erleichtert. Dann stutzte sie. Ich sah sie von der Seite scharf an, konnte aber im Gegenlicht ihre Augen nicht erkennen. Sie stand auf und hielt sich ratlos am Lenker ihres Fahrrads fest.
    »Na dann«, sagte sie, machte jedoch keine Anstalten zu gehen. Mit einem Zipfel meines Hemds trocknete ich Lios Füße ab. Das Kind hob den Kopf und strahlte Mary an, die aufs Wasser sah und hilflos die Hand hob.
    »Ich muss weiter.«
    »Ja, klar. Ciao«, sagte ich und hörte, wie der Ständer ihres Fahrrads mit einem federnden Geräusch nach oben sprang und sich an den Rahmen legte.
    »Ciao zäme«, rief Mary in die Runde und fuhr klingelnd davon.
    Ich drehte mich nicht nach ihr um. Eine tiefe Erleichterung, etwas wie Dankbarkeit erfüllte mich. Max fuhr sein Auto vor und stellte die Salsamusik darin lauter. Sie tackerte über den Platz, eine der Frauen nahm ihr Kind auf die Hüfte und begann zu tanzen. Der Don’t worry- Sound wurde aufgedreht, ein dissonantes Gemisch von Sommermusik mit anschwellendem Pegel übertönte alles andere, eine Kakofonie, in die sich kurz darauf die Polizeisirene mischte, einer der Anwohner hatte sich wegen Lärmbelästigung beschwert. Ich stieg aus dem Brunnen. Regula klopfte aufmunternd neben sich auf die Bierbank, ich aber machte eine Handbewegung, als würde ich zeichnen, deutete auf Lio und löffelte ihr imaginären Brei in den Mund und zuckte mit den Schultern. Sie winkte mir zum Abschied, und ich ging schnell davon.
    Einundzwanzig leere Kartons. Leer gekratzt und noch nicht zu Flocken zerschnitten. Bleistifte, Rapidographen, Schablonen, Metalllineale, Schneidemesser, Rasierklingen. Striche, Schraffuren, Speedlines, ohne Plan begann ich zu kritzeln, zu sticheln und zu schneiden. Manche grundierte ich, andere ließ ich in ihrem ursprünglichen blassen Grau. Ich füllte Rechtecke, wischte sie vom Tisch, begann mit dem nächsten, kam in einen langsam sich steigernden Rausch.
    Schwarze Bänder, rötliche Netze, graue, braune Brocken und steinhaufenähnliche Ansammlungen silberner Flecken, kantige Klippen, in eine Hochebene gestellt, von türkisblauen Flechtendecken überwuchert und von weißrot-weißen Wegmarkierungen akzentuiert, die Klingen der Felsgrate vor dem Himmelsblau wie Segelschiffe auf dem Meer, metallische Schlangenwindungen, Biegungen eines behäbigen Flusslaufs in den Tiefen der Täler, wie ein bunter Flugdrachen stand mein Bewusstsein über der Kritzellandschaft, während mein Körper sich in untauglichem Schuhwerk über den gestaffelten Kamm einer Felskanzel schleppte, fast freudig zuerst, dann müder werdend mit brennenden Sohlen, die zwischen die Geröllbrocken rutschten, wobei die Socken und die Knöchelhaut aufrissen. Ich balancierte ungeduldig über die ausgewaschenen Kavernen und Spalten des Felsbodens, ich suchte das Ende der scharfkantigen Gebirgsebene zu erreichen, das sich mit jedem Schritt weiter entfernte. Durch eine scharfe Trennlinie hob sich die löchrige Felswüste am Horizont gegen das andrängende Blau des Himmels ab, rückte jedoch nicht näher, veränderte sich lediglich in kaum wahrnehmbaren Schwankungen der Linienführung, die sich einmal zackiger, scharfgratiger, dann schweifender, immer jedoch klar konturiert ausnahm, jeder meiner Schritte vergrößerte die Ebene, erweiterte sie in Richtung auf ihr Ende hin, das nicht kam.
    Auf einem der flechtenbewachsenen Steine zwei hart gekochte Eier essen, deren Schalensplitter in den Felsspalten verschwanden wie Hagelschlossen im sommerheißen Oberflächenbewusstsein der

Weitere Kostenlose Bücher