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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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betrat, und als ich zu ihr kam, erhob sie sich, trat mir entgegen und küsste mich auf den Mund. Verdattert tat ich, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, als hätte ich es nicht anders erwartet, doch während des ganzen Abends spürte ich, wenn ich ihre Lippen ansah, wieder ihre seidige Oberfläche auf meinen, so unerhört sanft und selbstständig, als führten sie ein Eigenleben, das weder ich noch Josefine durchschauen oder bestimmen konnten. Sie fragte nach meiner Arbeit, und ich war so überrascht, dass ich zu stottern anfing, denn lange hatte ich mit keinem über meine Projekte geredet. Sie nippte am Weißwein und stocherte im Riz Colonial, spießte die exotischen Fruchtstücke auf und schob sie ohne Hast zwischen ihre so weichen Lippen, schob gedankenverloren das Essen auf dem Teller herum, während sie zuhörte, dann und wann etwas fragte und ich Mut fasste. Ich erzählte viel mehr, als ich gewollt hatte, es ließ sich nicht vermeiden, es war, als gingen die Schleusen, die die Tränen nicht hatten öffnen können, alle auf und die Fluten meiner eingeschlossenen Leidenschaften überschwemmten die Frau. Sie hielt sich fest an ihrer Gabel, die Knöchel traten hell hervor, doch sie hielt stand, und der Blick aus ihren dunkelgrauen Augen war offen.
    Ich fragte, um sie von mir abzulenken, was sie nach Zürich führte, und sie sah mich einen Augenblick an, als dächte sie nach, als zögerte sie, als wäre ich ihr zu nahegetreten. Ein Blick, der schwer zu deuten war und in mich, der ich ungeschützt vor ihr saß, eindrang, groß und diffus, ein Unbehagen, das nicht Schmerz genannt werden konnte, füllte mich aus. Ein Druck und das Gefühl, überfüllt zu sein. Überwältigt. Ich trank mein Bier in einem Zug leer, setzte das Glas ab und fragte weiter, woran sie zurzeit arbeite, und sie berichtete über einen Katalog, Begleitpublikation zu einer Ausstellung über die Fotografie am Bauhaus, Thema ihrer Diplomarbeit. So erfuhr ich, dass sie in der Forschung bleiben wolle, da nicht der Typ, der in Gummistiefeln über Baustellen gehe oder nächtelang an Wettbewerben arbeiten wolle. Das Problem des schwindenden Raums. Das verengte und verdichtete Bauen, zu dem sie nicht beitragen wolle, dafür hätte sie auch keine Rezepte bereit. Eigenheime, kleinere Umbauten, Renovationen oder der Erhalt bestehender Bausubstanz sei ihr zu nickelig, zu sehr kleinklein. Sie wolle lieber zu den Wurzeln graben, dahin, wo ihrer Meinung nach der Ursprung der zeitgenössischen Architektur liege, zu dieser kurzen dichten Epoche der Bauhauszeit, zu dem, was man die klassische Moderne nenne, auf die zu beziehen, von der sich abzusetzen heute jeder Architekt sich aufgefordert sehen musste. Mir kam das sehr apodiktisch vor. Dessen sei sie sicher, behauptete hingegen Josefine, aber genug. Mit der Haarsträhne aus der Stirn wischte sie auch das Thema weg und schob sich eine Gabel Reis und tropische Früchte in den Mund.
    Ich sah ihren weich geschwungenen, sehr klar konturierten Mund sich öffnen und um das Metall schließen. Die Oberlippe schwang sich zu zwei Gipfeln auf, ehe sie nach einer lang gezogenen Senke sich im Mundwinkel wieder ein wenig hob, was Josefine einen zwar freundlichen, doch immer etwas ironischen Ausdruck verlieh. Unter den gerade gewachsenen dichten Brauen lagen ihre dunklen Augen, in die ich jetzt hineinfiel und mich lange nicht mehr zurechtfand. Sollte ich noch ein Bier bestellen oder es einfach sagen? Sie redete weiter, als hätte unser Blickwechsel keine Bedeutung, als wäre ihr nichts aufgefallen, und ich erfuhr, dass es ihr größter Wunsch sei, nach Dessau zu gehen, wo das Feininger-Haus restauriert würde und man auch Bestandsaufnahmen der anderen Meisterhäuser mache, um sie in ihren Originalzustand zurückzuversetzen, daran würde sie gern mitarbeiten. Als sie das Wasserglas absetzte, schlug es an den Kelch des Weinglases, und ich glaubte, ein leises Zittern ihrer Fingerspitzen wahrzunehmen, als sie beide Hände schnell vom Tisch zog und in ihrem Schoß ineinanderknotete. Da entschloss ich mich.
    »Ich habe Lust mit dir zu schlafen.« Und sah auf meinen Teller, der jetzt leer war, ein paar letzte Reiskörner lagen verstreut herum. Sie behielt die Hände im Schoß, sagte aber: »Lass uns gehen«, und winkte dem Kellner.
    Auf der Straße fuhr mir der Wind ins Gesicht, Josefine schlug den gelben Trench zusammen und verknotete den Gürtel mit einem Ruck, als wollte sie ihn nie wieder öffnen. Die Straßenlampen

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