Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
atmenden, pulsierenden, dünstenden Körper eines verwandten Wesens in seiner Nähe. Keine Vereinigung, nicht einmal Zärtlichkeit, sondern nur der fahle Hauch eines fremden Atems, der mich streift, mehr eine Ahnung als eine Wahrnehmung, das wortlose Pulsen der Dunkelheit und die Gewissheit, nicht allein zu sein, ein nahezu unkörperliches Wissen um den anderen, der nichts weiter tut, als dieselbe Atemluft, dieselben Nachtstunden voller Schlaf und, ja, wenn wir uns lang verbunden sind, auch seine Traumfetzen mit mir zu teilen.
Diagnose: Allgemeiner Entwicklungsrückstand, neurologische Auffälligkeiten. Erstes Gespräch mit dem Vater am 15.6.1994, und seit dem 8.8. kommt Lio regelmäßig einmal pro Woche zur Frühförderung in die Frühberatungsstelle. Anamnese: bekannt. Abklärungsmittel: Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik für das 2.+3. Lebensjahr ( MFE ), Sensomotorisches Entwicklungsgitter nach Kiphard, Entwicklungsprofil nach B. Zollinger, Vademecum durch den Vater ausgefüllt.
Ergebnisse der einzelnen Abklärungsmittel
MFE -Durchführung am 20.10.94, LA19 Monate
Laufalter 12, Handgeschicklichkeitsalter 13,5, Perzeptionsalter 12, Sprechalter 11, Sprachverständnisalter 13, Sozialalter 12,5, Selbstständigkeitsalter 11,5 Monate.
Kiphard-Durchführung am 25.9.94
LA: 18 Monate, EA: 14, EQ 60
Entwicklungsprofil nach Zollinger-Durchführung am 11.9.94, LA: 18 Monate; praktisch-gnostische Kompetenzen –5, symbolische Kompetenzen 7–10, sozial-kommunikative Kompetenzen 10–13, sprachliche Kompetenzen 5–7 Monate
Vademecum am 11.9.94 durchgeführt, LA: 18 Monate
A: körperliche Entwicklung / Kontrolle der Körperbewegungen 13, B: Entwicklung des Sehens und Greifens 12, C: Entwicklung des Hörens und Sprechens 12, D: Entwicklung der Selbstständigkeit 13, E: Entwicklung der Gefühle und Gemeinschaftsfähigkeit 13 Monate.
Das Blatt zitterte in meiner Hand, ich sah auf die Uhr. Josefine wartete auf mich. Der Therapiebericht enthielt nichts, was mir nicht bekannt gewesen wäre, dennoch. Der fachliche Blick, das therapeutische Machtwissen, die Verzögerung der Entwicklungsetappen und die Zeitfenster, die sich eins ums andere schlossen, würde nichts gegen die Versäumnisse getan, ja selbst dann. Man musste etwas tun, mehr tun, das wurde mir klargemacht und auch, dass ich davon ja keine Ahnung hatte, dass der Abstand nicht mehr aufgeholt werden konnte, keine Prognose möglich sei, die Entwicklung in Gang, das Entwicklungsbild homogen, jedoch. Mit einem Entwicklungsrückstand zwischen fünf und sieben Monaten. Und das, so wurde mir klar, waren im Leben eines Kleinkindes, was für unsereinen Jahrzehnte waren. Nicht aufzuholen, das wurde mir nicht gesagt. Klargemacht schon. Unwiederbringlich verlorene Zeit. Ungenutzte Zeit, in der ich zu sehr mit mir beschäftigt gewesen war, mich zu wenig gekümmert hatte, einfach nicht gut genug gewesen bin. Weil ich nichts gewollt und getan hatte, als mit dem Kind zu leben, wie ich mir vorstellte, dass ein Vater es tun sollte. Da war es wieder: das Reparaturbedürfnis. Und wie zur Siesta in einer glutheißen spanischen Stadt schlossen sich vor meinen Augen die Fensterläden einer um den anderen. Mir brannte die Sonne in den Nacken, durch die menschenleere Straße kroch ein fahler Hund mit eingeklemmtem Schwanz, er schnüffelte an meinen Hosen und schlich jaulend weiter. Der letzte Laden klappte zu, und in den Erdgeschossen wurden die Metallgitter vor den Fensterauslagen heruntergelassen. Kein Windhauch ging, ich starrte auf die plane Fläche der Fassade vor mir, der abweisenden Häuserfront. Das Blatt in meiner Hand zitterte, und ich begann zu heulen wie der Straßenköter. Tränen liefen über mein Gesicht und Rotz aus meiner Nase. Dass man das verlernen kann. Seit dem Besuch der stählernen Silhouetten an der Route nationale, zu denen meine Eltern geworden waren, hatte ich nicht mehr geweint, und jetzt, da es mich überkam, konnte ich es nicht mehr. Mir tat der Schädel weh, als wollte er zerspringen. Die Augen wie Murmeln mit hartem Druck in ihren Höhlen, und nach dem ersten Schwall rann nichts mehr. Kein Tropfen kam aus meinen Augen. Ich schnäuzte alles weg und warf mir kaltes Wasser ins Gesicht. Es klingelte, Paul kam, um Lio zu holen, ich zog ein frisches Hemd und die Lederjacke an und ging.
Froh um den kalten Wind, der mir ins Gesicht stach, eilte ich durch die Straßen. Josefine war sehr schön. Sie wartete bereits, als ich das vegetarische Restaurant
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