Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Großbuchstaben-Comic-Lettering machte, das mir leicht von der Hand ging, und ich wusste, dass es so funktionieren würde.
Um das Dossier fristgerecht fertig zu bekommen, arbeitete ich mehrere Tage lang durch, unterbrach nur, um Lio zu versorgen, Bier zu holen, kurz zu schlafen. Um nicht in Tiefschlaf zu verfallen, legte ich mich bei geöffnetem Fenster auf den Fußboden, deckte mich nicht zu, rollte mich nicht ein, nickte nur für eine halbe oder dreiviertel Stunde weg, bis mich das Schaudern meines unterkühlten Körpers weckte, ich mich streckte und auf den Hocker am Zeichenbrett kraxelte, um weiterzumachen. Mit Max beriet ich mich über die Texte, wir verknappten und präzisierten die Aussagen, bis Text und Bild zur Einheit verschmolzen, die Redundanzen aufgelöst waren und ich die letzten Fassungen machen konnte. Anruf beim Drucker, Proofs erstellen, abspeichern, hinbringen, Lio in der Therapie abliefern, Espresso in Marys Café, Belanglosigkeiten austauschen, Prints holen, eintüten und im Stadthaus vorbeibringen, wo wir eine Viertelstunde vor Büroschluss eintrafen. Wenigstens zur Konkurrenzpräsentation eingeladen werden, wenigstens das. Zu Hause nahm ich das Bild von Paule vom Schrank und hängte es mit dem Gesicht zur Wand auf. Ein unscheinbares C4-Couvert, etwas gewellt von Wasser und Farbe, die an den Rändern auf die Rückseite ausgetreten war, eine karamellfarbene leere Fläche, frei und unbefleckt, Reduktion ihrer Präsenz auf die bekleckerten Kanten, Randexistenz in meinem Leben.
Und dann rief Josefine an, um mir zu sagen, dass sie nächste Woche in die Stadt komme und mich treffen wolle. Sofort ging ich zu Paul und bat ihn, Lio dann zu hüten. Er fragte nichts, lächelte nur, schien sich zu freuen und fragte schüchtern, ob er was aus meiner Comicsammlung lesen dürfte. Alice jedoch, so nachlässig sie mit der Ernährung, Hygiene und irgendwelchen Erziehungsregeln war, tolerierte nicht, dass er die Schule vernachlässigte, und stieß sich daran, dass er, seit ich ihm den Deal mit den Zeichenstunden angeboten hatte, jede freie Minute bei uns oben verbrachte, um zu zeichnen. Er machte schnell Fortschritte und saß lieber bei uns als zu Hause über den Mathebüchern. Ich meinerseits wollte Lio nicht mehr in Alices Obhut lassen, seit ich sie einmal in erbärmlichem Zustand zurückbekommen hatte. Krank, unterkühlt, mit einem langen, sich verbreiternden Kratzer, der von der Stirn über die Nase bis zum Mundwinkel lief. Die Zwillinge hatten gestritten und Lio sei halt dazwischengeraten. Halt so. Ich redete mit Alice über Pauls Zeichentalent und bat sie inständig, ihn zu uns zu lassen – dass es um eine Frau ging, dass ich sie liebte, verschwieg ich, und schließlich willigte sie ein. Dann. Ich hätte es wissen müssen, hatte damit gerechnet, irgendwo in einem abstrakten Teil meines Hirns, nicht im wirklichen Leben, nicht innerhalb meines Erfahrungshorizonts, meines tatsächlichen Erlebens, meiner Vorstellungskraft. Da war es nicht. Jedoch. So plötzlich. Und zum falschestmöglichen Zeitpunkt geschah es, und alles andere wurde nebensächlich: Meine Großmutter war tot.
Der Anrufbeantworter spuckte eine unpersönliche knarrende Stimme aus. Dürre Worte, abgegriffene Beileidsfloskeln. Damit endete meine Kindheit. Lieber mit warmen Händen geben, hatte sie gesagt, wenn ich als junger Kunststudent zu ihr gekommen war und sie mir einen oder zwei Hunderter zusätzlich zusteckte. So fand sich in den Jackentaschen, Mantelsäumen, im Geheimfach ihres Nähtischs, zwischen Bücherseiten und im Spiegelschrank ihres Badezimmers zwischen Gebissreiniger und Inkontinenzeinlagen kein Geld, nur eine Perlenkette, der Lippenstift in der Goldhülse und ein leerer Flakon ihres Parfums. Neben diesen Habseligkeiten vererbte sie mir ein kleines Sparguthaben, das nach Abzug der Pflegeheimkosten für die Beerdigung im einfachsten Sargmodell gerade eben reichte. Go schteenei pra. Sie lebte nicht mehr.
Am Abend nach der Beerdigung war ich mit Josefine verabredet.
Müde stand ich am Fenster und sah Pink Cloud zu, die unten auf und ab ging und sich, als ein Wagen hielt, auf den Fensterrahmen stützte, den kurz berockten Hintern rausgestreckt, mit dem Fahrer verhandelte, dann die Zigarette wegwarf und einstieg. Leer lag die Straße da, mir war klamm, ich fühlte mich verlassen und sehnte mich nach der warmen Haut eines Frauenkörpers. Es war nicht die Gier nach einem schnellen Schuss, vielmehr die Suche eines Höhlentiers nach dem
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