Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
Vom Netzwerk:
Sozialamt.
    Herr Zanotta packte sein Pferdeschwänzchen und drehte es in der Hand. Dann öffnete er die Laufschubladen mit den Hängeregistern, suchte mein Dossier und ein paar Formulare und Broschüren zusammen und setzte sich mir gegenüber. Es gebe ein Angebot des Vereins Schtärneglanz, der Eltern in schwieriger sozialer Lage helfe Pflegeeltern oder Pflegegroßeltern zu finden. Er würde sich da mal kundig machen. Ferner ein Heim im Zürcher Oberland, Haus Espoir, für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung, hier die Telefonnummer, um einen Besichtigungstermin zu vereinbaren. Ferner gebe es den Verein zur Entlastung von Familien mit Behinderten und weitere Heime, doch an die würden wir uns erst wenden, wenn ich diese Möglichkeiten geprüft hätte und nichts Geeignetes für Lio dabei wäre. Ich ging mit den Unterlagen zurück in die Wohnung und telefonierte sofort alle Nummern durch, um Termine zu vereinbaren. Lio war noch bei Alice, und ich wusste, wenn ich sie jetzt holte, wenn sie mich jetzt anlachen würde, würde ich die Anrufe nicht machen können. Ich musste es jetzt tun, wo ich noch Josefines Geschmack auf der Zunge hatte und das Gefühl von Vollständigkeit und Freiheit im Kopf.
    Mit S-Bahn und Bus fuhren wir aufs Land, um das Hoffnungsheim zu besichtigen. Ein warmer Herbsttag. Kein Vogel, kein Geräusch außer einem Flugzeug dann und wann, Hitze lastete auf den grellgrünen Wiesen, keine Blume, kein Vogelsang. Dumpf kauende Kühe lagen wie hingeworfen da. Am Busbahnhof nahm ich ein Taxi, mehrere Kilometer waren noch zu bewältigen, der Taxifahrer schien vom Haus Hoffnung noch nie gehört zu haben, wir suchten gemeinsam. Vor einem schlichten weiß gekalkten Haus ließ er uns aussteigen, und im Augenblick seines Davonfahrens stellte ich fest, dass der Buggy noch im Kofferraum lag. Nun ja, hier brauchten wir ihn sowieso nicht. Das mehrstöckige Gebäude, umgeben von Gelände, das man Garten nicht nennen konnte. Einige magere Sträucher begrenzten eine abgetretene Wiese zur Straße hin, ein Plattenweg führte auf einen großen asphaltierten Platz vor der Eingangstür aus gelblichem Glas, daneben ein abgesägtes Holzfass mit irgendwelchen welken Blumen, rot und rosa. Völlige Stille auch hier, wir waren in eine Geisterwelt gefallen, und ich begann laut mit mir selbst zu sprechen. Lio stand und schaute. Offen, unvoreingenommen, nicht neugierig, nicht abwehrend. Eine wohltuende Neutralität dieser seltsamen Situation gegenüber, die sich, als ich mich niederhockte, um ihr mit dem Taschentuch den Speichelfaden abzuwischen, augenblicklich auf mich übertrug. Ich öffnete das mannshohe Gartentor, wir betraten das Grundstück und näherten uns dem Haus.
    Geräuschlos und ohne das geringste Zeichen einer Vorankündigung sprang, braun-weiß und fellig, hechelnd und mit entblößtem Gebiss, ein riesenhafter Hund um die Ecke, stellte sich vor das Kind, die Reißzähne auf der Höhe seiner Augen. Ich roch die zersetzte Fleischmahlzeit in seinem fauligen Atem, Speichelflocken spritzten aus den Lefzen, als er mit eingezogenem Schwanz ein einziges Bellen hören ließ, so dicht vor Lio, die bisherige Stille so plötzlich zerreißend, dass der Schall in einem Ruck durch den kindlichen Körper hindurchfuhr und ihn in diesem plötzlichen Überfall so erschütterte, dass das Kind einen Satz machte und umfiel. Schon wollte sich das Tier über Lio hermachen, als ich dem Köter mit meiner Umhängetasche auf die Schnauze schlug und Lio unter ihm hervorzog. Noch war ich guter Dinge. Ein drahtiger Mittvierziger erschien neben dem Blumenkübel und rief den Hund zurück, während er auf uns zukam mit dem Satz auf den Lippen, der wolle nur spielen. Jaja. Er stellte sich als Herr Schläpfer vor, wir gaben uns die Hand. Er strich Lio über den Kopf und ließ die Hand in ihrem Nacken liegen, um sie ins Haus zu führen, wo im Vorraum ein mit Streublumen bedrucktes Sofa stand, in dessen Ecke ein Porzellanpierrot mit weißem Gesicht und ebenso weißer Halskrause saß. Seine Lippen waren rot wie die verzweifelten Blumen draußen und zum Kussmund gespitzt. Die Augen von senkrechten schwarzen Strichen durchkreuzt. Auch hier herrschte eine vollkommene Stille, sodass ich mich zu fragen begann, wo die Heimbewohner waren. Die »Chinde« seien auf einem Ausflug, zerstreute Herr Schläpfer meine Irritation und erklärte den Tagesablauf, während wir durch die Räume eilten. Küche, Essraum, Büro. Dann eine knarrende Holztreppe hinauf in

Weitere Kostenlose Bücher