Attack Unsichtbarer Feind: Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast (German Edition)
und begann, sich einen Weg durch das Riedgras und die Brombeersträucher zu bahnen, die überall wucherten. Das Moor lag zu unserer Linken, zu unserer Rechten war die dunkle Wellenlinie des Kielder Forest zu sehen. Die Vegetation war noch feucht vom kalten Morgentau, und stellenweise lag immer noch Schnee. Wir hatten noch keine hundert Meter zurückgelegt, als meine Schuhe und Hosenbeine schon durchweicht waren. Holmes war mir bereits voraus, er sprang vorwärts wie ein Besessener. Unvermittelt blieb er mit einem Aufschrei der Bestürzung auf einer kleinen Bodenerhebung stehen und kniete sich hin. Als ich mir den Weg zu ihm bahnte, den Revolver im Anschlag, sah ich, was er entdeckt hatte. Mitten im Riedgras lag eine Leiche, keine zweihundert Meter vom Waldrand entfernt. Ein Militärgewehr, offenbar ein Martini-Henry Mk IV , lag daneben. Nur zu gut erkannte ich den Staubmantel und die Lederbeinlinge, jetzt bestialisch zerrissen und zerfetzt. Es war Constable Frazier – oder, präziser ausgedrückt, das, was von dem armen Kerl übrig geblieben war.
»Watson«, sagte Holmes in gebieterischem Ton, »berühren Sie nichts. Jedoch würde ich es zu schätzen wissen, wenn Sie mir, nur vom Augenschein her, Ihre medizinische Meinung über den Zustand dieses Mannes mitteilen könnten.«
»Er wurde offensichtlich angefallen«, sagte ich und begutachtete den leblosen Körper. »Von irgendeiner großen und reißenden Kreatur.«
»Einem Wolf?«
»Das erscheint mir wahrscheinlich.«
Holmes befragte mich eingehend. »Sehen Sie irgendwelche spezifischen und identifizierbaren Spuren? Von Reißzähnen vielleicht oder Klauen?«
»Das ist schwer zu sagen. Die Grausamkeit des Angriffs und der desolate Zustand des Leichnams erschweren eine genauere Beobachtung.«
»Und sind Teile des Körpers – fort?«
Ich sah noch einmal hin. Trotz meiner medizinischen Ausbildung stellte ich fest, dass das ein höchst unerfreuliches Unterfangen war. In Indien hatte ich mehr als einmal Stammesangehörige gesehen, die von Tigern angefallen worden waren, aber nichts aus meiner Erfahrung reichte auch nur annähernd an die Brutalität heran, die bei Constable Frazier ausgeübt worden war.
»Ja«, sagte ich endlich. »Etliche, glaube ich.«
»Übereinstimmend mit der Beschreibung des zweiten Opfers? Des Naturkundlers?«
»Nein. Nein, ich würde sagen, in der Hinsicht war dieser Angriff umfassender.«
Holmes nickte langsam. »Sie sehen, Watson. Es ist wieder so wie bei den menschenfressenden Löwen von Tsavo. Mit jedem neuen Opfer werden sie kühner – und ihre Schwäche für die neu entdeckte Nahrungsquelle wird größer.«
Damit zog er ein Vergrößerungsglas aus der Tasche. »Das Gewehr wurde nicht abgefeuert«, erklärte er, als er den Martini-Henry untersuchte. »Offenbar hat die Bestie sich von hinten angeschlichen und unseren Mann angefallen.«
Nach einer kurzen Untersuchung der Leiche umkreiste er sie in einem immer größer werdenden Radius, bis er sich – mit einem erneuten Ausruf – tief bückte, um sich dann langsam, den Blick zu Boden gerichtet, auf ein noch weit entferntes Gehöft zuzubewegen, das von zwei umzäunten Feldern umgeben war: vermutlich der Wohnsitz des unglückseligen Constables. Irgendwann blieb Holmes stehen, drehte sich um, und dann kehrte er – immer noch unter Benutzung des Vergrößerungsglases – zu der Leiche zurück und ging langsam daran vorbei, bis er am Rand des Hochmoors angekommen war.
»Wolfsspuren«, sagte er. »Kein Zweifel. Sie kommen aus dem Wald, führen zu einer Stelle in der Nähe des Bauernhauses und dann zu der Stelle, wo das Opfer angefallen wurde. Zweifellos kam er aus dem Wald, verfolgte sein Opfer und tötete es auf offenem Gelände.« Erneut untersuchte er mit dem Vergrößerungsglas das Riedgras am Rande des Moors. »Die Spuren führen direkt ins Moor, dort.«
Nun unternahm Holmes eine Umkreisung des Moors, ein mühsames Unterfangen, bei dem er mehrmals stehen blieb, wieder umkehrte und verschiedene Stellen, die von Interesse waren, mit größter Sorgfalt untersuchte. Ich blieb bei der Leiche, ohne etwas anzurühren, wie Holmes mich angewiesen hatte, und sah ihm aus der Ferne zu. Das Ganze dauerte etwas über eine Stunde – mittlerweile war ich bis auf die Haut durchweicht und zitterte unkontrollierbar. Ein kleines Grüppchen neugieriger Zuschauer hatte sich an der Straße eingefunden, und der Arzt des Ortes und der Friedensrichter – Letzterer war nach dem Ableben von
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