Attack Unsichtbarer Feind: Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast (German Edition)
Stadt, »Chinalager« genannt, bevölkerten die sogenannten »Kulis«, die furchtbar diskriminiert wurden. Eine »Negerstadt« gab’s auch. Auch wurde in einem Artikel auf ein heruntergekommenes Lager in einem nahe gelegenen Canyon hingewiesen, das von »diversen betrunkenen, elenden Vertretern der Roten Rasse, den traurigen Überbleibseln der ehemaligen Ute« bevölkert werde.
Im Jahr 1876 war das Gesetz noch kaum in Roaring Fork angekommen. »Recht« wurde meistens von zwielichtigen Vigilanten gesprochen. Wenn am Vorabend in einem Saloon eine Schießerei oder Messerstecherei unter Alkoholeinfluss stattgefunden hatte, wurde der Täter nicht selten am nächsten Morgen aufgeknüpft an einer großen Pappel am anderen Ende der Stadt gefunden. Dort wurden die Leichen, zur Begrüßung der Neuankömmlinge, mehrere Tage lang hängen gelassen. In einer geschäftigen Woche hingen zwei, drei, ja sogar vier Leichen am Baum, aus denen »Maden fielen«, wie ein Reporter genüsslich schrieb. Die Zeitungen waren voll von schillernden und haarsträubenden Geschichten. Eine Fehde zwischen zwei Familien, die mit der vollständigen Auslöschung aller bis auf einen Mann endete. Ein übergewichtiger Pferdedieb, der so viel wog, dass die Erhängung ihn köpfte. Ein Mann, der Amok lief, weil er, wie die Zeitung schrieb, einen »Gehirnsturm« erlitten hatte, sich für Jesus hielt, sich in einem Bordell verbarrikadierte und schließlich die meisten der leichten Mädchen umbrachte, um die Stadt von der Sünde zu befreien.
Die Arbeit in den Minen war entsetzlich, die Bergarbeiter fuhren vor Tagesanbruch ein und kamen nach Sonnenuntergang wieder heraus, sechs Tage die Woche, so dass sie nur sonntags Tageslicht sahen. Unfälle, Einstürze und Explosionen waren an der Tagesordnung. Doch in den Pochwerken und der Schmelzerei herrschten noch schlimmere Verhältnisse. Dort, in diesen großen Industriebetrieben, wurde das Silbererz von gigantischen, mehrere Tonnen schweren Metallpochen pulverisiert. Diese zertrümmerten das Erz im Wortsinne, schlugen Tag und Nacht und erzeugten einen unablässigen Lärm, der die ganze Stadt erschütterte. Der daraus gewonnene Schotter wurde in riesige Eisentanks geschüttet, zusammen mit mechanischen Rührwerken und Schleifplatten, um ihn weiter zu einer breiähnlichen Paste zu reduzieren; dann wurden Quecksilber, Salz und Kupfersulfat hinzugefügt. Das daraus entstandene Hexengebräu wurde mehre Tage lang gekocht und gerührt, erhitzt von riesigen, mit Kohle befeuerten Kesseln, die ununterbrochen Qualm ausstießen. Weil die Stadt in einem Tal lag, umgeben von Bergen, erzeugte der Kohlerauch einen erstickenden, an London erinnernden Nebel, der die Sonne über Tage verdunkelte. Denjenigen, die in der Hütte arbeiteten, erging es schlechter als den Bergabeitern, weil sie sich aufgrund geplatzter Dampfrohre und Kessel tödliche Verbrühungen zuzogen, von giftigen Dämpfen erstickt oder durch schwere Geräte furchtbar verstümmelt wurden. Es gab keinerlei Sicherheitsvorschriften, keine Arbeitszeitbegrenzung, keinen Mindestlohn und keine Gewerkschaften. Wurde ein Arbeiter durch eine Maschine verkrüppelt, wurde er umgehend entlassen, bekam ab sofort keinen Lohn mehr und musste selbst zusehen, wie er sich durchs Leben schlug. Die schlimmsten und gefährlichsten Jobs bekamen die chinesischen »Kulis«, über deren häufiges Ableben im hinteren Teil der Zeitung auf die gleiche flapsige Weise berichtet wurde, wie man vielleicht den Tod eines Hundes kundtat.
Corrie spürte, wie sie zunehmend empört reagierte, während sie über die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung und die gleichgültige Grausamkeit im Streben nach Profit las, wie die Bergbaugesellschaften sie ausübten. Am meisten überraschte sie jedoch, dass die Staffords – die zu den angesehensten wohltätigen Familien New Yorks zählten und wegen des Stafford Museum of Art und der reichen Stafford-Stiftung Berühmtheit genossen – ihr Vermögen während des Silberbooms in Colorado gemacht hatten, und zwar als Investoren hinter dem Hüttenwerk in Roaring Fork. Die Familie Stafford hatte, wie sie wusste, im Laufe der Jahre viel Gutes mit ihrem Geld getan – was den unappetitlichen Ursprung des Vermögens umso verwunderlicher machte.
»Was für eine Stadt«, unterbrach Stacy Corries Gedanken. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Roaring Fork damals so ein Dreckloch war. Und schau dir die Stadt heute an: die reichste Gemeinde der USA !«
Corrie schüttelte den Kopf.
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