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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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Ihr – also unser, mein Norbert Lammert, momentan, wie die meisten seiner Kollegen, in der Sommerpause. Schlägt also das Herz unserer Demokratie im niederfrequenten Ruhepuls? Keineswegs, zeigt ein Blick auf die Vena Cava: diese Menschenschlange.
    Der Ausblick, dieser »einmalige Rundblick« (Lammert), kann nicht der alleinige Grund dafür sein, dass Menschen aus allen Bundesländern, aus der ganzen Welt hier täglich bis zu zwei Stunden warten, um mit dem Aufzug zur Aussichtsplattform des Reichstagsgebäudes zu gelangen und den Spiralgang in der Kuppel hinauf- und wieder hinabzuspazieren, denn der Fernsehturm – für die meisten Reichstagsbesucher ebenfalls Station ihres Berlin-Aufenthalts – ist deutlich höher.

    Liegt es an der Architektur, am Rudelverhalten, am Demokratieverständnis? Jedenfalls: Zum Kanzleramt oder zum Schloss Bellevue geht kaum jemand. Da am Zaun stehen? Dann doch lieber hier in der Schlange.
    Den Volksparteien laufen die Mitglieder weg, und niemand will mehr wählen, höchstens eine radikale Partei? Wo laufen sie denn? Hier jedenfalls stehen sie, jeden Tag.
    Die Schlange, sagt ein Herr aus Kalifornien, der schon seit fast einer Stunde ansteht, die Schlange ist ein Statement. In Amerika sei es, nicht zuletzt aus Sicherheitsgründen, undenkbar, dergestalt den Kongress zu – ja: bevölkern.
    »Die Abgeordneten repräsentieren die Menschen in Deutschland«, sagt unser Norbert Lammert, und das ist natürlich eine schöne Idee, und darauf basiert schließlich unser politisches System. Doch man hat auch schon von Menschen gehört, die nach einem Blick in den gefüllten Plenarsaal oder auch nur auf den Wahlzettel so ihre Mühe hatten, dort eine ihnen genehme oder gar ihnen gemäße Identifikationsfigur zu finden. Man sieht häufig Politiker im Fernsehen, hinter sich sinnfällig die Kuppel, die, weil die Umfragewerte gerade nicht so passen, verkünden, sie machten sich Sorgen um die Demokratie, man müsse nachhaltig dafür werben, für die Demokratie – und im Hintergrund sieht man dann ameisenklein all diese Menschen in der Kuppel ihre Rundblickrunden drehen; Menschen, die sich interessieren, die teilhaben wollen, die diesen Staat ganz in Ordnung zu finden scheinen, die lange angestanden haben, um das Bühnenbild der Politik zu inspizieren und so auch auf sich hinzuweisen. Jeder, den man in der Schlange danach fragt, beteuert, wählen zu gehen, und zwar: »natürlich«! Ein paar Tausend Menschen pro Tag, etwa drei Millionen im letzten Jahr.
    Kurz vor dem Ziel steht jetzt ein Studentenpärchen aus Hamburg, vom Eingang nur noch getrennt durch eine schwarzrotgoldene Kordel, mit dem nächsten Schwung werden sie in den Reichstag gelassen. Sie sagt: »Schöner Bau, muss man mal besichtigt haben als Deutscher, gut,dass er offen für jeden ist.« Ihr Freund empfindet den Klang des Wortes Reichstag als »ungefähr zu einem Drittel negativ«, sie sagt, dass diese Bezeichnung ja aus der Kaiserzeit komme, Wort und Gebäude schließlich nichts für den Missbrauch durch die Nazis könnten. Ihr Vater ist Architekt, und der frage sich übrigens wirklich, wie man nur solchen Beton benutzen konnte für das gegenüberliegende Kanzleramt – der wird doch ganz schnell schmutzig.
    Ein paar Warteminuten weiter hinten steht eine Familie aus Colorado, freut sich auf die Kuppel und findet, dass dieses Ensemble »good vibes« habe: dieses geschichtsträchtige Haus inmitten der Stadt, und all die unterschiedlichen Menschen in der Schlange davor. Der Reichstag sei ein Symbol für die Geschichte Deutschlands, sagen sie stadtführergeschult. Und was soll man auch sonst sagen.
    Ich war in Paris – ja, auch auf dem Eiffelturm.
    Ich war in London – natürlich, auch am Big Ben.
    Und in Berlin standen wir auch in dieser Schlange vor dem Reichstag.
    Man will in das Fernsehbild, die Postkarte, die offizielle Kulisse hineintreten, und ein Beweisfoto machen, als Beleg für den Besuch der Stadt und die eigene Existenz.
    Touristen verhalten sich wie Fernsehkorrespondenten, die ihren aktuellen Aufenthaltsort am liebsten durch ein weltbekanntes Wahrzeichen im Hintergrund beglaubigen lassen.
    Nachdem er 84 auf den Stufen sitzenden Gymnasiasten erklärt hat, wo die Buslinie 100 abfährt, kann ein leicht gestresster Mathematiklehrer aus Vilshofen kurz erzählen, wie mitunter irritierend die Gespräche mit diesen nach der Wende geborenen Schülern seien. Für uns Lehrer, sagt er, war die Wiedervereinigung ein emotionales Ereignis – für

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