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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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diese Schüler ist es bloß Geschichte, etwas, das man eben lernt, aus Büchern. Keine eigene Erinnerung und Erfahrung, sie hören davon – und es klingt fern wie der 30-jährige Krieg.
    Die Bleigravur über dem Portal ist ein treffender Gemäldetitel für dieses Bild, Menschenschlange vor Gebäude: »Dem Deutschen Volke«. Undwenn die Bonn-gewöhnten Lehrer sich auch das spärliche Resthaar raufen mögen, weil ihre Schüler beim Wort »Reichstag« nicht zusammenzucken, ja nichtmal beim Wort »Volk« – so können sie hier doch den seltenen Fall besichtigen, dass ein Gebäude tatsächlich die ihm eingeschriebene Bestimmung erfüllt. Und die Völker der Welt? Schauen, wenn sie endlich oben sind, auf diese Stadt.
    Studentische Hilfskräfte in roten T-Shirts, beschriftet mit »Deutscher Bundestag Information«, gehen die Schlange ab, schauen nach Menschen älter als 70 oder jünger als sieben und körperlich Behinderten, um sie zu einem separaten Eingang zu geleiten.
    Auf den Stufen sitzt ein Elfjähriger aus Köln, seine Mutter steht in der Schlange, er schreibt Postkarten, Schwarz-Weiß-Aufnahmen des Boulevards Unter den Linden und des Brandenburger Tors von 1910 und 1915 – das passe gut für Postkarten an seine Oma und seine Uroma, findet er. Da drüben, er zeigt aufs Kanzleramt, regiert die Kanzlerin. Das Saarland habe weniger Abgeordnete als Nordrhein-Westfalen, weiß er, wie er sich überhaupt am meisten für Geschichtsgeschichten interessiert, in denen seine Heimat vorkommt: Über Adenauer, der ganz früher Oberbürgermeister von Köln gewesen war, später dann erster Bundeskanzler der Bundesrepublik wurde. Und dass das Glockengeläut vom Band, mit dem zur morgendlichen Andacht in die kleine Kapelle im Reichstag geladen wird, das des Kölner Doms ist. Liebe Oma, schreibt er nun auf die Schwarz-Weiß-Postkarte.
    Die Schlange vor dem Reichstag scheint als Luftholpause durchaus eingeplant in den klassisch-touristischen Berlin-Tag, die Wartenden blättern in ihren Reiseführern, kontrollieren die bislang gemachten Berlin-Fotos im Digitalkameradisplay, machen weitere Bilder voneinander in der Schlange, auf der Wiese, auf der Treppe. Ungeduldig wirken die Menschen nicht, eher andächtig. Das Schlangestehen ist Teil der Reichstagsbesichtigung, schon in der Schlange steht man im Bild, das man vom Reichstag hat. Wir könnten anders, aber: Wir stehen hier. Die Reichstagsbesichtigung ist Pflicht, sagen viele der Wartenden, Pflicht ganzunterschiedlicher Art, auferlegt von Lehrern, Eltern, Reiseführern, Internet oder Reisekompagnon. Oder von – viele wissen es gar nicht so genau. Irgendwie Pflicht eben.
    Man sehe das Gebäude schließlich jeden Tag im Fernsehen, sagt ein schlangestehendes Ehepaar aus Idar-Oberstein, und die Besichtigung gehöre einfach dazu, wenn man schon mal in Berlin ist. Und es sei auch mal schön, über den Politikern zu stehen, probiert der Mann einen Witz. In Bonn damals seien es ja eher Zweckbauten gewesen, da sei er öfter dran vorbeigefahren, wäre aber nie auf die Idee gekommen, einen davon zu besichtigen. Bevor sie sich hier heute angestellt haben, saßen sie im Foyer des Hotels Adlon und haben dort einen Kaffee getrunken, horrend teuer, aber: die Atmosphäre! Das habe sich gelohnt.
    Zwei Mädchen aus Konstanz erzählen, sie hätten dem Abgeordneten Andreas Jung aus Baden-Württemberg eine Mail geschrieben, daraufhin habe der sie eingeladen, und deshalb müssen sie sich nicht hinten anstellen. Das ist ein guter Trick, jeder Abgeordnete hat ein gewisses Kontingent solcher Einladungen zu vergeben, ein gemeinsames Essen im Paul-Löbe-Haus inbegriffen – so hat der Abgeordnete Kontakt zu »den Menschen«, und diese eingeladenen Menschen müssen nicht in der Schlange stehen. Für heute, sagen die Mädchen, haben sie nun ihr Pflichtprogramm beendet, jetzt: Shopping und Feiern. Die Broschüre »Parlamentsdeutsch – Erläuterungen zu parlamentarischen Begriffen« lassen sie auf den Stufen zurück.
    Auf dem ersten Treppenabsatz vor dem Eingang informiert ein Schild: ab hier noch ungefähr 30 Minuten. Manchmal geht es schneller, manchmal langsamer, das komme, sagt einer der hier arbeitenden Studenten, darauf an, welche Schicht der Sicherheitsfirma gerade Dienst tue, die seien unterschiedlich fleißig. Doch gibt es Orientierungsmarken: Ab Höhe der am Tag der Einheitsfeier 1990 aufgestellten Deutschlandfahne auf dem Vorplatz dauere es eine gute Dreiviertelstunde, wer bis auf den Rasen anstehe, müsse

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