Auch Deutsche unter den Opfern
schließlich nicht wählen. Change – ist das eine Phrase, bloß ein cleverer Slogan? Oder was möchte man denn, woran mangelt es, wenn man es mal zusammenfasst? Nie war man so sicher vor Folter-Begriffen wie Pendlerpauschale oder flächendeckender Tarifvertrag. Man schaltet in Deutschland den Fernseher ein, und kaum wird es politisch, fallen diese Begriffe, die ja keine unwichtigen Themen benennen, die aber so totgeleiert sind im läppischen Kleinkrieg der Parteien, dass sie leider gar nichts mehr bedeuten. Man hört ja auch gar nicht mehr zu. Aber hier nun: keinmal aufs Handy geguckt, keinmal gegähnt, keinmal nach einem Bierstand Ausschau gehalten. Tatsächlich, wir hörten einem Politiker zu. Es ging tatsächlich ums sogenannte große Ganze, und trotzdem hatte man nicht eine Sekunde das Gefühl, da labere einer; wenn in Deutschland jemandem attestiert wird, er klänge wie ein Prediger, ist das in den allermeisten Fällen abfällig gemeint. Da denken wir dann ein andermal drüber nach. Aber: Dies war eine Predigt. Eine gute Predigt, eine große Rede. Mit dem verworrenen Gefühl war man hergekommen, dass dieser Abend legendär werden könnte – und vielleicht auch genau nicht, weil vorher schon so viel darüber gesprochen wurde, Obamas Auftritt vorgreifend eingereiht wurde in epochale Berlin-Reden, gleichzeitig augenbrauenlupfend darauf hingewiesen wurde, dass er ja bislang noch nichtmal offiziell Präsidentschaftskandidat ist, der Herr Obama. Man hatte die Floskel »seine mit Spannung erwartete Rede« so oft gehört und gelesen, dass eigentlich jegliche Spannung verdampft war.
Wie froh man aber nun war, trotzdem gekommen zu sein: Man hatte jetzt das Gefühl, einem sehr guten Arzt zuzuhören, einem, der dieKrankheitsgeschichte analysiert, die Vorerkrankungen nicht unerwähnt lässt, der Behandlungsmethoden skizziert und einen Heilungsprozess in Aussicht stellt.
Thank you Berlin, God bless you – er ist nichtmal der naheliegenden Versuchung erlegen, uns einen Satz in deutscher Sprache zuzurufen. Applaus, Applaus. Nun kam er vom Podest, Hände schütteln, man sah ihn nicht mehr, sah nur noch, wo er entlangschüttelte, weil dort die Fotoapparate blitzten und die Menschen besonders drängelten.
Seine mit Spannung erwartete Rede? Pah. Das ganze blöde Gerede, man war dagegen jetzt immun. Man hatte ja selbst gehört und gesehen – und wusste gar nicht so genau, wie das nun zu bewerten war, was das nun hieß, und die schlauen Herren vor ihren Kameras dahinten, die sollten mal bloß nicht so schlau tun. Wir gingen jetzt einfach nach Hause und hatten endlich mal wieder einem Politiker zugehört. Auf dem Asphalt sah man, als sich die Menge etwas lichtete, noch ein paar rote Farbspritzer von dem Irren, der tags zuvor durch die Absperrung gebrettert war und diese Farbe verschüttet hatte, um somit gegen irgendwas zu protestieren. Hoffentlich hat er einen guten Arzt. Den Super-Arzt jedenfalls hat er verpasst.
Vor Schloss Bellevue sah man dann Ulrich Matthes in eine Kamera erzählen, wie sehr ihm die Rede gefallen hat. Als er damit fertig war, konnte man ihn noch schnell fragen, ob das wirklich stimmte, dass die Begrüßungsstimme aus dem Lautsprecher die seine war? Quatsch, sagte Matthes, an dessen Jacke ein großer »Obama 08«-Button hing. Aber war die Rede nicht großartig, fragte Matthes zurück – und seine Augen leuchteten.
[ Inhalt ]
Die Schlange vor dem Reichstag
Ein schlechter Tag für die Demokratie, steht in den Zeitungen, denn: »Den Volksparteien laufen die Mitglieder weg.« Die SPD-Mitglieder laufen am schnellsten, aber die CDU-Mitglieder sind auch nicht langsam. Ein neuer Tiefstand, bald geht das Abendland unter.
Über dem Reichstag ist die Sonne trotzdem aufgegangen, brennt bereits ordentlich, es ist noch früh am Morgen. Schon bevor um acht Uhr die ersten Besucher durch die Sicherheitsschleuse gehen dürfen (Taschen und alle metallischen Gegenstände bitte aufs Röntgenfließband legen), formiert sich die Schlange, die zum Reichstag gehört wie die Kuppel, diese Menschenschlange, die da die Treppe zum Eingang herunterwächst auf den Vorplatz, den »Platz der Republik«, die jetzt immer länger wird, die jeden Tag sich hier schlängelt bis zum Rasen, von früh- morgens bis spätabends.
Gibt es hier was umsonst? Ja: Der Eintritt ist frei, nichtmal die Broschüren kosten etwas. »Hier schlägt das Herz unserer Demokratie«, fabuliert in einem Faltblatt »Ihr Norbert Lammert, Bundestagspräsident«.
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