Auch Deutsche unter den Opfern
sagt aber, es sei schon schwierig, sie müsse ja eigentlich darauf achten, sich bei offiziellen Auftritten ein bisschen nett herzurichten, aber sie gehe so wahnsinnig ungern einkaufen; sie habe nur dieses eine Paar Schuhe, das ihr passe, mit etwas höheren Absätzen, dann wirke sie erstens größer und müsse zweitens automatisch den Körper gerade halten. Auch ihre Handtasche gefalle ihr eigentlich gar nicht, die habe sie in aller Schnelle für die Demo am 1. Mai gekauft, um da nicht den Rucksack mit sich herumschleppen zu müssen. Jeans wird sie morgen tragen und eine Jacke. Ein Jackett? Na ja, sagt sie, eben die, die sie jetzt auch anhabe. Es ist eher eineJacke. Sie weigere sich, im Kostümchen rumzulaufen, sie sei nun mal bei den Jusos.
Wenn sie im Namen der Zukunft morgen ein Lied durch die Lautsprecher des Konventssaals jagen dürfte, welches wäre das? Sie guckt ihren iPod durch. Tatsächlich finden sich in ihrer nicht ganz altersgemäß wirkenden Interpretenliste Hannes Wader und Franz Josef Degenhardt. Also, Degenhardts »Entschuldigung eines alten Sozialdemokraten«? Nein, sagt Drohsel, es müsse schon ein neuerer Interpret sein, einer, der heutige Lebenswelten drastisch besinge. Hans Eichel hätte das wahrscheinlich nicht anders formuliert, es spricht aber weiterhin die Vorsitzende der Jusos: Der Rapper Sido vielleicht – wenn der nicht leider sexistisch wäre. Wird denn am Ende des Zukunftskonvents gesungen? Könnte sein. Wie geht noch mal dieses Lied? Leise singt Franziska Drohsel: Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ / Mit uns kommt die neue Zeit …
So ganz hat sie den Text nicht parat. Bei den Jusos, sagt sie, würden sie immer »Die Internationale« singen. Das sei viel schöner, und ja wohl echt das bessere Lied, auch musikalisch.
Nürnberg Hauptbahnhof, die Zukunft der SPD steigt aus. Der, so wurde es heute im Bundestag beschlossen, künftig zu 24,9 % privatisierte ICE fährt nach kurzem Aufenthalt weiter nach München. Einer der Juso-Jungs möchte jetzt erstmal ein Eis essen. Aber die Vorsitzende sagt, dafür sei jetzt wirklich keine Zeit, in einer halben Stunde gehe es los, die Thesen verabschieden.
[ Inhalt ]
Obama in Berlin
Endlich schwieg die Musik, es war kurz vor sieben, und alle starrten zum Himmel – dort sah man einen Hubschrauber. Es war jetzt sehr still. Einige dachten vielleicht, Obama säße in diesem Hubschrauber, andere mutmaßten, der Hubschrauber flöge genau über der Obama-Limousine auf ihrem Weg zur Siegessäule. Aber man schaute so oder so nach oben, denn das war das Gefühl: Obama kommt von oben. Stille. Rund um das Rednerpult ein paar Gummibäume und eingetopfte Farnbüschel, das sah eher nach Stadthalle aus, aber hinter dem Rednerpult ragte die Siegessäule in den Abendhimmel, Victorias Gold in Sonne getaucht – das sah nun wahrlich überhaupt nicht nach Stadthalle aus.
Man hatte vorher noch Witze gemacht, Witze und Wetten, denn unironisch einer Politiker-Rede zuzuhören, war man einfach nicht mehr gewohnt. Was wird er anhaben, Hemdfarbe hellblau oder, wie heute Morgen vor dem Kanzleramt, weiß; wie viele sind wir hier überhaupt, welche Begrüßungsformel wird er wählen (»Thank you« zählt nicht), wird er ein Redemanuskript dabeihaben, wie wird der eine deutsche Satz lauten, den er am Ende sagen wird, auf den doch alle warten – über all das hatten wir Wetten abgeschlossen. Und uns war dabei aufgefallen, wie liebevoll wir den Namen Obama intonierten, so als handele es sich um einen Vor- oder gar Kosenamen.
Dann ertönte eine Stimme aus den Lautsprechern und bat, Senator Barack Obama zu begrüßen. Jemand flüsterte, er habe heute irgendwo gelesen, dass der Schauspieler Ulrich Matthes einleitende Worte sprechen würde. War das jetzt die Stimme von Matthes? Das alles war plötzlich ganz unerheblich, denn da schritt nun tatsächlich Obama auf das Rednerpult zu, Applaus, Sprechchöre, Begeisterung. Er dankte mehrfach für diese freundliche, ja überschwängliche Begrüßung – und dann sprach er.Frei, eindringlich, brillant. »Citizens of Berlin« – juhu, hier sind wir! Unsere Witze und Wetten (und die beiden Teleprompter) vergaßen wir.
Luftbrücke, Partnerschaft, Freiheit – schöne Wörter. Terrorismus, Völkermord, Klimawandel, Atomwaffen – schlimme Wörter. Obama erzählte die Geschichte seiner Familie, erzählte auch die jüngere Geschichte Berlins und also Deutschlands. Hier stand ein Mann, der nicht direkt etwas von uns wollte, wir können ihn
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