Auch Deutsche unter den Opfern
ein Anruf, ein Redakteur vom »Spiegel«. Drohsels Miene, die kurzzeitig diese Thema-Beck-Düsternis befallen hatte, hellt sich auf. Ach echt, das freue sie aber, sagt sie ins Telefon. Ja, demokratischer Sozialismus und, genau, Kapitalismus überwinden. Es geht um das Thesenpapier »Für eine linke Zukunft«. Der »Spiegel«-Redakteur hat Auszüge daraus zu lesen bekommen und bringt dazu eventuell eine kleine Meldung in der nächsten Ausgabe. Das ist voll gut, freut sich Drohsel, als sie aufgelegt hat. Das Papier werden sie heute Abend im Juso-Vorstand beschließen – beschließen oder auch verabschieden, Drohsel kichert, was für bekloppte Begriffe man da automatisch dauernd verwende, das sei schon krass. Kurz darauf ruft noch jemand an, einer, der dieses Thesenpapier gerade noch mal überarbeitet. Europa?, fragt Drohsel ins Telefon, ja, finde sie gut, Europa solle er mal ruhig noch als Extrapunkt aufnehmen, auch wenn im Thesenpunkt »Globalisierung« jaEuropa schon ein bisschen mit drinstecke. 60 Thesen würden es insgesamt, vielleicht auch 59.
Es sind 63 geworden, sagt sie kurz darauf, es könne aber auch sein, dass sie sich verzählt habe. Daniela hat sich inzwischen die Schuhe ausgezogen.
Leipzig Hauptbahnhof. Hier wohnt mein Bruder, sagt Drohsel. Der Versuch, einen Mitropa-Kaffee zu kaufen, misslingt zunächst, die Kasse spinnt, sagt die Dame hinterm Tresen. Frage an Franziska Drohsel, ob sie bitte noch mal in einem Satz erklären könne, was es mit der Bahnreform auf sich hat? Die Fachtermini kommen ihr mühelos über die Lippen: Vinkulierte Namensaktien, stimmrechtslose Vorzugsaktien – wenn es konkret wird, klingt natürlich auch Franziska Drohsel wie einer dieser Talkshow-Parlamentarier. Aber noch merkt sie es, wenn sie in diesen lachhaft verstiegenen Duktus verfällt, eine Mischung aus Kleingedrucktem und maschinell erstellter Behörden-Mitteilung – und dann bricht sie kichernd ab.
Saalfeld an der Saale. Hier sei sie mal bei einer großen Antifa-Demo gewesen, fällt Drohsel ein. Zweimal seien die Busse von der Polizei abgefangen worden, erst beim dritten Anlauf habe es geklappt mit der Demo. Wenn sie von Demonstrationen spricht, wird ihre Stimme schwärmerisch. Bahnreform, Kurt Beck, Kapitalismus – muss wohl alles überwunden werden, irgendwie. Ihr sei das alles zu defensiv, der neoliberale Zeitgeist sei doch Vergangenheit, die Stimmung im Land habe sich schließlich gedreht, warum bloß drehe die SPD sich nicht konsequent mit? Kapiert sie nicht. Worüber die da immer zanken – das nerve doch. Zukunft der SPD? Na ja. Ihr gehe es, sagt Drohsel, um die Zukunft linker Politik. Um freies Denken. Dieses Thesenpapier zum Beispiel, ihre Stimme klingt jetzt wie sonst nur bei der Schilderung von Demonstrationserlebnissen, da stünden Sachen drin, die den Jusos wichtig seien, radikal, mit Zitaten von Peter Weiss, Rosa Luxemburg und Karl Marx. Vorfreudige Vorsitzende: Am Montag hauen wir das raus! Zwei Tage nach dem Zukunftskonvent der SPD also.
Am kommenden Sonntag hat Drohsel Geburtstag, sie wird 28. Tagsüber müsse sie leider zum NRW-Landesdelegiertenkongress, das sei nun mal ein wichtiger Landesverband.
Als die Kasse nicht mehr spinnt, im Speisewagen, bei Kaffee und Käse-Kirsch-Kuchen, setzt sich Daniela dazu, kurz darauf auch Ralf, der mit der SMS vorhin; einen Wagen weiter sitze er, und mit ihm praktisch das halbe Willy-Brandt-Haus. Oh Gott, erschrickt Drohsel plötzlich, die letzte Fassung des Juso-Thesenpapiers habe sie nicht auf ihrem Laptop, sondern nur auf dem Computer im Büro! Ralf kann sie beruhigen, er hat sie auf einem USB-Stick dabei. Jetzt piept Ralfs Handy: 163 dafür, 27 dagegen, 2 Enthaltungen, 30 abwesend, liest er vor, es handelt sich um die Abstimmungsstatistik der SPD-Fraktion zum Bahnprivatisierungsmodell. Drohsels Blackberry hat auch eine Neuigkeit: Wir sind immer noch im Umfragetief, sagt sie, 21 % nur noch für die SPD, wenn am Sonntag Wahl wäre, und: Die Mehrheit der Bürger misstraue Kurt Beck. Projekt 18, kommentiert Ralf ausatmend. Schön ist das nicht, sagt Drohsel.
Wie diese drei da sitzen, man hat das Gefühl, sie spielen Politik. Können sie mal Kurt Becks Steuerpläne rasch zusammenfassen? Sozialer Aufstieg für alle, sagt Drohsel; die SPD rückt wieder in die Mitte, sagt Daniela. Dann lachen sie, also echt, wie das klinge!
»Attraktiv und voller Ideale«, so beschrieb die »Bunte« Franziska Drohsel. Sie selbst findet solche Titulierungen nicht weiter schlimm,
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