Auch keine Tränen aus Kristall
Temperatur betrug 35° C und die Feuchtigkeit etwa 92 Prozent.
Da waren keine Beamten, die sie mit Reden verabschiedeten. In dem Jahrzehnt, das vergangen war, hatte das Kommen und Gehen von Menschen in Paszex aufgehört, besondere Aufmerksamkeit zu erwecken. Aber eine Abschiedsparty gab es. Ryozenzuzex war zugegen, begleitet von einem jungen Thranx-Erwachsenen, der Qul hieß, und einem hochgewachsenen, drahtigen Menschen namens Wilson Asambi. Sie arbeiteten zusammen an der Entwicklung von Hybrid-Obst.
Bonnie warf einen letzten Blick auf Willow-wane. Die fernen Linien von Pflanzungen und Dschungel, die kleinen Dickichte von Luftschloten, der Shuttle-Landeplatz, das alles waren alte Freunde, die sie hinter sich ließ, aber in ihrem Gedächtnis bewahren würde. Sie sah ganz genauso aus wie damals vor zehn Jahren, als sie zum ersten Mal den Fuß auf Willow-wane gesetzt hatte. Diese Welt eignete sich dazu, fit zu bleiben. Sie hatte jetzt ein paar graue Strähnen im Haar, und ihr Ausdruck wirkte zufrieden.
»Ich nehme an, du wirst auf deinem Posten weiterarbeiten«, sagte sie zu Ryo.
Er zuckte die Achseln, eine menschliche Geste, die im Begriff war, bei den Thranx recht populär zu werden, und fügte ein bestätigendes Pfeifen hinzu. Er dachte über die Geste und ihre Bedeutung nach. Wir geben einander so viel, dachte er. Gesten ebenso wie Wissenschaft, Gewohnheiten ebenso wie Kunst. Besonders Dichtung. Er lächelte innerlich. Vor zwei Jahren war der alte Wuuzelansem davongezogen, an einen Ort, wohin auch immer alte Poeten sich zurückziehen, kämpfend und um sich schlagend und den Zustand des Universums beklagend, aber nicht bevor er erlebt hatte, dass eben die Ungeheuer, denen er so sehr hatte aus dem Wege gehen wollen, seine Kunst überschwänglich gelobt hatten.
Ryo fehlte der alte Wuu. Selbst wenn sie nicht immer die gleichen Ansichten gehabt hatten.
Von hinten war ein schrilles Pfeifen zu hören. Fal wartete nahe am Eingang nach Paszex. Sie war immer noch nicht bereit, näheren Kontakt mit Menschen zu haben. Ihr Trauma war verständlich; schließlich waren sie dafür verantwortlich gewesen, dass man ihr ihren Vorgefährten weggelockt und ihn gezwungen hatte, sie zu schlagen. Das äußerste, wozu sie sich bereitfinden konnte, war, sie zu tolerieren.
Toleranz als erstes, sagte er sich. Freundschaft später. Wenn überhaupt, dann hatte letzteres noch Zeit.
Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass Bonnie Augenfeuchtigkeit absonderte. Ryo wartete, um festzustellen, ob es Freude oder Schmerz ausdrückte. ›Wasser der Freude, Wasser des Leids‹ hatte Wuu das in einem seiner Gedichte genannt.
»Ich weine aus Freude und aus Schmerz«, sagte sie. »Ich bin froh, dass die Dinge sich so gut entwickelt haben. Und ich bin traurig, dass nach all den Jahren schließlich die Zeit zum Gehen gekommen ist. Ich kann einfach die Stelle an der Universität, die man mir auf der Erde angeboten hat, nicht ablehnen. Luh - Luh hätte es gefallen, wie die Dinge sich entwickelt haben.«
»Es gibt immer noch viel zu tun«, sagte Ryo. »Ich werde meine Position behalten, solange ich helfen kann.«
Bhadravati scharrte mit den Füßen und sagte nichts. Gesprächigkeit hatte nie zu den Stärken des Wissenschaftlers gehört, das wusste Ryo. Er empfand in sich große Traurigkeit über die bevorstehende Abreise seiner zwei ältesten Menschenfreunde.
»Es gibt keinen Grund zu weinen, meine Freundin«, sagte Ryo zu Bonnie. »Wir haben nichts als Grund zum Glücklichsein. Eines Tages werden wir einander wieder begegnen.«
Bonnie war zu sehr Realistin, um das zu glauben. Umstände und Abstände, die uralten Feinde jeder Bekanntschaft, würden sich verschwören, um das zu verhindern.
Trotzdem antwortete sie mit einem Lächeln: »Das hoffe ich, Ryo«, und berührte mit beiden Händen die Spitzen seiner nach ihr ausgestreckten Fühler. Die Interspezies-Geste war jetzt ebenso automatisch wie ein Händedruck. Ryo wiederholte sie mit Bhadravati.
»Diese jungen Leute hier«, sagte er und wies auf Asambi und Qul, »werden jetzt die wirklich wichtige Arbeit übernehmen. Nichts kann verhindern, dass unsere Freundschaft sich vertieft.« Sie, weinte immer noch, und er machte eine Geste sanfter drittgradiger Ermahnung.
»Bitte, Freundin, es soll bei diesem Abschied nicht noch mehr Tränen geben. Nicht Wassertränen von dir und auch keine Tränen aus Kristall von mir - weil ich sie gar nicht erzeugen könnte. Das ist eine Geste, um die ich euch
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