Auch Santiago hatte einen Hund
Immer noch klammerte ich mich an den Gedanken, dass es in seinem Leben doch noch Momente gab, in denen er sich wohl fühlte, ohne Schmerzen, und gerne auf der Welt, mit mir war. Damit rechtfertigte ich mein Zögern, das Hinausschieben dieser furchtbaren Entscheidung, die mir bevorstand. Auch der Tierarzt war keine große Hilfe, denn er nahm mir die Entscheidung nicht ab (womit er absolut richtig handelte), obwohl ich es mir mit einer Hälfte meines Ichs wünschte. Die andere Hälfte dachte klar und rational, wusste, dass mir niemand diese Verantwortung abnehmen konnte, und war auch bereit dazu, die Entscheidung zu treffen. Nur, diese Hälfte war immer noch nicht laut und stark genug!
Als ich aber eines Abends bei meiner Rückkehr zum Auto Ajiz wieder hilflos zwischen Vorder- und Rücksitzen auf dem Rücken liegend vorfand, fiel eine Klappe in mir. Manche mögen sich jetzt fragen, warum ich Ajiz immer noch allein im Auto zurückließ. Nun, ich hatte aus dem Vorfall gelernt und ließ ihn nie länger als 30 Minuten allein im Auto. Manchmal war es halt einfach unumgänglich, denn wenn ich - alleinstehend und außerhalb von Innsbruck lebend - in der Stadt zu tun hatte, wollte ich ihn auf keinen Fall so lange zu Hause lassen, genauso wenig wie ich Freunde und Eltern zu sehr belasten wollte. Im konkreten Fall war ich zu einem Geburtstagsfest eingeladen, zu dem ich ihn eigentlich problemlos mitnehmen konnte. Nur hielt er es auch nicht mehr so lange unter vielen Menschen aus. Deshalb pendelte ich während des gesamten Festes (bei dem ich sowieso nicht lange blieb) mit Ajiz zwischen Auto und Fest etwa alle dreißig Minuten hin und her.
Und als er mich, nachdem ich ihn aus seiner Lage befreit hatte, stumm, traurig und voller Schmerz anblickte, wusste ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Ein paar Tage später fragte ich den Tierarzt direkt, was er täte, wenn Ajiz sein Hund wäre. Und nach kurzem Zögern antwortete er, er würde ihn einschläfern. Daraufhin vereinbarten wir, dass er in der nächsten Woche, am Karfreitag, am Abend zu mir hinaufkommen werde, um Ajiz zu Hause, in vertrauter Umgebung, einzuschläfern.
Die Entscheidung war gefallen. Aber ich war in diesem Augenblick nicht erleichtert, nur tiefe Traurigkeit überkam mich.
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SONNTAG, 21. NOVEMBER LETZTER TAG!
OSTABAT SAINT-JEAN-PIED-DE-PORT
Um sieben Uhr stehe ich auf, draußen ist es noch stockdunkel. Daniel hat Frühdienst, er bereitet mir das Frühstück und setzt sich dann zu mir an den Tisch. Wir unterhalten uns über alles Mögliche, u. a. über die Kirche, weil heute Sonntag ist und ich ihn frage, wie es die Basken mit dem Besuch der Sonntagsmesse halten. Und über den Priestermangel und das Zölibat sind wir plötzlich bei der Frauenfeindlichkeit der Kirche gelandet. Da erzählt mir Daniel, dass es noch gar nicht lange her ist, dass Frauen, die entbunden hatten, die Kirche nicht betreten durften - weil sie unrein waren! Erst nach einer bestimmten Zeit bekamen sie dazu wieder die Erlaubnis: Der Pfarrer erwartete sie am Eingang und an seiner Hand betraten sie die Kirche, wodurch sie wieder in die Gemeinschaft aufgenommen wurden. Unglaublich!
Als ich um acht Uhr das gastliche Haus verlasse, geht gerade die Sonne auf und taucht das Land in ein unbeschreiblich schönes Licht. Über den Feldern liegt der Raureif, Nebelfetzen hängen über den Niederungen. Es ist eiskalt, aber einfach herrlich zum Gehen! Ich bin mutterseelenallein auf dem uralten Pilgerweg und komme etwa auf halber Strecke zur Ruine des Magdalenenhospizes, in dem die Pilger seit 1199 Aufnahme fanden. Allein und ganz gefangen von der Atmosphäre des Gemäuers fällt es mir leicht, mich in jene Zeit zurückzuversetzen. Wie viele zerlumpte, erschöpfte, hungrige und durchfrorene Pilger haben hier wohl ein Bett und eine warme Suppe bekommen? Einer Informationstafel entnehme ich, dass das Hospiz mit EU-Geldern gerade restauriert und somit wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt wird. Gut so.
Es geht sehr gut voran, mein Plan, um dreizehn Uhr in Saint-Jean ZU sein, dürfte aufgehen, ich kann also mit dem Zug um halb zwei in Richtung MONT-DE-MARSAN abdampfen. Gestern habe ich mich schon telefonisch bei Olga angekündigt.
25 Minuten später, auf der Anhöhe beim Kreuz von GALZETABURU (bis SAINT-JEAN sind es noch elf Kilometer) ist es mit der Herrlichkeit vorüber. Der historische Weg besteht nicht mehr, das bedeutet Asphalt. Dies ginge ja noch, zu Anfang ist es nur eine
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