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Auch Santiago hatte einen Hund

Auch Santiago hatte einen Hund

Titel: Auch Santiago hatte einen Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Lindenthal
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geographischen Sinn), streng gesetzestreu, plädierte dafür, die Polizei zu rufen, und setzte sich durch. Bei meiner Ankunft war alles schon vorbei. Ein Polizist hatte das Auto geöffnet, Ajiz befreit und war wieder von dannen gezogen, mit der Bitte, ich möge, sollte ich jemals zurückkehren, mich zwecks Aufnahme meiner Personalien für das Protokoll telefonisch in der Wachstube melden. Sonst gab es keine Konsequenzen. Abgesehen von den Vorwürfen natürlich, die über mich hereinbrachen wie das Rote Meer über die Ägypter und die ich schuldbewusst gar nicht erst zurückzuweisen versuchte.
    Dieser Vorfall machte mich traurig und betroffen: Denn außer einem (wieder einmal!) schlechten Gewissen bekam ich noch die Gewissheit, dass der Abschied von Ajiz nahe war, er bald selbst jenen Fluss überqueren würde, der das Diesseits vom Jenseits trennt und über den seine Artgenossen seit mythischer Vorzeit den Menschen begleiten.
     
    39
    SAMSTAG, 20. NOVEMBER
    SAUVETERRE - OSTABAT
     
    Ein Traumtag! Es ist, als würde alles an seinen richtigen Platz rücken, als würde mir all das, was ich seit meinem Aufbruch von PAIMPOL erlitten, ausgehalten und durchgestanden hatte - die Hitze, das miserable Wetter, die schwierige Quartiersuche und die Einsamkeit -, jetzt in Glückswährung zurückbezahlt werden. Es beginnt damit, dass mir der
    Blick aus dem Zimmer einen makellos blauen Himmel zeigt. Dann, noch vor dem Frühstück mit Madame Duchamps, stelle ich fest, dass alle meine Sachen, sogar meine am Abend beinahe aufgeweichten Schuhe, über Nacht getrocknet sind.
    Mit den besten Wünschen meiner liebenswürdigen Gastgeberin versehen starte ich schließlich in meinen vorletzten Pilgertag. Meine Hochstimmung lässt mich an die Euphorie denken, die mich und Ajiz damals vor neun Jahren fast täglich auf unserer Pilgerreise begleitet hat. Jetzt weiß ich, dass es gut und richtig war, mich nicht mit MONT-DE-MARSAN als Endpunkt meiner Reise zufrieden zu geben.
    Der Jakobsweg, über längere Abschnitte noch der jahrhundertealte historische Weg, führt durch eine schöne, sanft hügelige „Voralpenlandschaft“, durch blitzsaubere, heimelig anmutende Baskendörfer, vor mir liegen die schon schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen, die sich wie weiße Scherenschnitte vom tiefblauen Himmel abheben. Landschaft, Licht, Farben und auch die Häuser erinnern mich ein bisschen an das Hochland von Mexiko, kein Wunder, viele spanische Conquistadores kamen ja aus dem Baskenland. Und Chilipfeffer mögen sie hier auch, wie ich an den Bündeln von Chilischoten erkenne, die zum Trocknen an den Hausmauern hängen. Beinahe verspüre ich so etwas wie ein wohliges Heimweh. Mit jeder Pore sauge ich die Schönheit um mich in mir auf und genieße mein Alleinsein, das mich alles noch intensiver erleben lässt. Sich an so einem Tag einsam zu fühlen erscheint mir unmöglich.
    Kurze Trinkpause an der weißen, sonnenwarmen Außenwand der kleinen Kirche von SILLÈGUE, wenige Kilometer vor Saint-Palais, dann auf der Trasse der aufgelassenen Eisenbahn hinein in das Städtchen, wo ich vor acht Jahren mit Ajiz bei den Franziskanerpatres übernachtet habe. Ab hier bin ich nicht nur auf meinen eigenen Spuren unterwegs -im Mai 1996 ging ich mit Ajiz auf der VIA PODIENSIS von LE PUY nach RONCESVALLES - sondern auf denen Dutzender Millionen Jakobspilger. In unmittelbarer Nähe von SAINT-PALAIS münden drei der vier großen französischen Jakobswege zusammen und führen als ein einziger Weg bei Roncesvalles über die Pyrenäen. Nur die VIA TOLOSANA bringt die von ARLES kommenden Pilger weiter landeinwärts über den SOMPORT-Pass nach Spanien. Die berühmte Stele von Gibraltar (der Name eines Dorfes in der Nähe, hat nichts mit der Meerenge zu tun) südlich von SAINT-PALAIS kennzeichnet den Treffpunkt der drei Wege, dort halte ich meine Mittagsrast: eine traumhafte Aussicht, die schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen scheinen zum Greifen nahe - es ist atemberaubend schön! Ohne Siesta - bei den Bedingungen heute brauch ich keine - geht es weiter. Bei der Kapelle von SOYARZA erreiche ich mit ca. 300 Metern Seehöhe den zweithöchsten Punkt meiner Pilgerreise, das ist schon eine kleine Verschnaufpause wert. (Jeder Vorwand ist mir recht, um das beeindruckende Panorama noch einmal in mich aufnehmen zu können I) Im Licht der untergehenden Sonne wirkt die Landschaft wie verzaubert, der aufgehende Mond hängt wie ein gelber Lampion vom dunkelblauen Himmel, nur meine Schritte brechen

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