Auch Santiago hatte einen Hund
die spätherbstliche Stille, denn auch die friedlich am Wegrand grasenden Schafe geben keinen Laut von sich. Als ich am Weiler HARAMBELTZ vorbeigehe, fallen gerade die letzten Sonnenstrahlen auf das uralte Nikolaushospiz (schon im elften Jahrhundert von den Benediktinern gegründet), den Weg bis zu meinem Ziel OSTABAT weist mir der Mond. Es müssen im Mittelalter wahre Massen gewesen sein, welche hier im ersten Ort nach dem Zusammentreffen der drei Hauptrouten Unterkunft gesucht haben, es wird von 5000 (!) Schlafplätzen berichtet. Auch wenn sich vielleicht im Laufe der Jahrhunderte zu ursprünglichen 500 eine Null dazugeschwindelt hat, wäre dies immer noch eine Zahl, die die Popularität der Pilgerstätte Santiago im Mittelalter eindrucksvoll belegt. Doch davon ist im nächtlichen, novemberkalten OSTABAT von heute nichts zu bemerken. Die einzige Pilgerherberge hat Wintersperre, auf mein drängendes Rufen und Pochen meldet sich niemand. Scheune, Heustadel oder Ähnliches für ein Biwak sehe ich auch nicht. Droht mir ausgerechnet am letzten Abend meiner Pilgerreise wieder eine mühselige Herbergssuche? (Eine Übernachtung im Freien kann ich mir aus dem Kopf schlagen, die jetzt schon tiefen Temperaturen lassen erkennen, wie kalt es im Morgengrauen sein wird.) Aber Jakobus lässt mich nicht im Stich. Das einzige Gasthaus im Ort ist geöffnet - und vermietet Zimmer für Pilger, zu einem günstigen Preis! Die Chefin des Hauses, eine Baskin um die 40, hübsch und sympathisch (mit vier beinahe noch hübscheren Töchtern und einem feschen Mann mit dichtem Schnauzbart und Baskenmütze), teilt mir mit, dass für insgesamt 27 Euro auch ein Abendessen inkludiert ist. Die Gelegenheit, in diesem einfachen Landgasthaus bei sicherlich wohlschmeckender regionaler Küche (was essen eigentlich so die Basken?) Abschied vom Jakobsweg zu feiern, lasse ich mir nicht entgehen und nehme das Angebot von Marie- Hélène ohne zu zögern an.
Ergebnis:
1) Ich bin satt und zufrieden
2) Die Basken essen ausgezeichnet!
Zuerst bekam ich eine kräftige Gemüsesuppe serviert, d. h. Marie-Hélène stellte den vollen Topf einfach vor mich hin und holte ihn erst wieder, nachdem ich, glaube ich, zweimal nachgeschöpft hatte. Dasselbe wiederholte sich mit der Schüssel, die beinahe bis zum Rand mit einem ausgezeichneten Fleischeintopf gefüllt war. Dazu gab es Brot und Rotwein aus der Gegend, à volonté (so viel ich wollte) und zum Abschluss Pyrenäenkäse. Ohne Umschweife und Einschränkungen erkläre ich mich hiermit zum Baskenfan, ganz im Gegensatz zu Aimery Picaud, dem Verfasser des ersten Pilgerführers im 12. Jahrhundert, der an den Basken kein gutes Haar lässt. Später kommen Stammgäste aus dem Dorf; sie sitzen mit Marie-Helenes Mann Daniel am Nebentisch, trinken Rotwein, Kaffee und Schnaps (gab’s auch für mich) und unterhalten sich angeregt auf Baskisch. Nur selten verstehe ich ein paar Wortfetzen -hier bin ich ein echter Ausländer. Nach dem Essen setze ich mich zu ihnen. Freundlich machen sie mir Platz und wechseln problemlos ins Französisch, um meine vielen neugierigen Fragen über ihr Land, ihre Sprache, ihre Kultur und auch über politische Themen zu beantworten. Was für ein schöner Abschluss!
Der heutige Tag geht in seiner ganzen Schönheit egoistischerweise an mich selbst - möge ich in meinem Leben immer einen guten Weg finden...
Die Entscheidung
Es war, als würden von einer ursprünglich immens langen Checkliste immer mehr Punkte als „erledigt“ abgehakt werden: Es blieben nur mehr wenige Dinge, die ich gemeinsam mit Ajiz unternehmen konnte, und bald würde das Ende der Liste erreicht sein. Sogar im Kino hielt er es nicht mehr lange aus und ich musste früher hinausgehen - nicht ohne Murren, gebe ich gerne zu. Sein Bewegungsbedürfnis war jetzt strikt auf die Erledigung seiner „Geschäfte“ reduziert und es mehrten sich die Stimmen in meinem Bekanntenkreis, die meinten, ich solle seinem Leiden doch endlich ein Ende setzen. Ja, mit dem Kopf wusste ich schon lange, dass mein Traum von einem friedlich entschlafenden Ajiz ein Traum bleiben und ich nicht um die schwere Entscheidung herumkommen würde, zum Tierarzt zu gehen und ihn dort einschläfern zu lassen. Aber wann war dieser Zeitpunkt gekommen, wann konnte ich sicher sein, dass Ajiz wirklich keine Lebensqualität, keine Freude am Leben mehr hatte? Warum musste ich das entscheiden, wer hatte mir die Macht gegeben, über Ajiz’ Leben und Tod zu entscheiden?
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