Auch sonntags Sprechstunde
hatte mir nie klargemacht, wie sehr der harte Winter mit der Pockenepidemie, dem Schnee und Nebel mich mitgenommen hatte. Ich fühlte mich wie neugeboren und war erholt und mit neuer Spannkraft zu meinen Patienten zurückgekehrt. Es machte mir nichts aus, wenn sie ihre Medizinflaschen auf dem Heimweg fallen ließen und wegen eines neuen Rezepts anrufen mußten.
Diese Mittsommernacht aber war ein wunder Punkt.
»Ich werde mir die Badehose anziehen und mich im Garten in die Sonne legen«, verkündete ich.
»Ich dachte, du hast heute Dienst?« Sylvia war bereits im Bikini und im Begriff, zu den Zwillingen hinauszugehen, die in einer großen Wasserschüssel im Garten auf dem Rasen herumplanschten.
»Die meisten Leute werden wohl heute an die See hinausfahren, wenn das Wetter so bleibt. Es könnte in Südfrankreich nicht schöner sein«, tröstete ich mich.
Ich stand nackt da und überlegte gerade, wohin Sylvia am Wintersanfang meine Badesachen gelegt haben mochte, als das Telefon läutete.
»Ich rufe wegen Susan an, Herr Doktor«, sagte eine ängstliche Stimme, die ich als die Stimme von Mrs. Sharp erkannte. »Sie hat eingemachtes Obst gegessen, und Jeremy sprang ihr auf den Rücken, da mußte sie husten und kann nicht mehr atmen, sie erstickt.«
Ich stellte fest, daß ich drei bis vier Minuten zum Anziehen brauchen würde, außerdem Zeit, um den Wagen herauszuholen, nach Cherry Mount zu fahren und das Obst zu entfernen, das in der Luftröhre von Susan Sharp steckte, die bereits halb erstickt war. Zuviel Zeit also, um noch rechtzeitig zu Susan zu kommen! Deshalb beschloß ich, mich nicht erst anzuziehen, ich riß eine Schublade auf, da lag die Badehose, ich schlüpfte hinein und war schon auf dem Weg zum Wagen. Glücklicherweise war Sonntag und der Verkehr mäßig. Besorgte Gedanken durchschossen meinen Kopf: vielleicht wurde ein Kehlkopf schnitt nötig. Ich stellte fest, daß nun bereits vier Minuten seit Mrs. Sharps Anruf verstrichen waren. Ihr müssen sie wie Stunden vorgekommen sein: sie stand verzweifelt wartend an der bereits geöffneten Garagentür. Susan lag im Gras, blaurot angelaufen und ohne Bewußtsein, ihr Bruder stand kreidebleich neben ihr.
Ich kniete neben dem Kind nieder, steckte einen Finger hinter ihre Zunge und atmete erleichtert auf, als ich den Fremdkörper spürte. Einen Augenblick später hatte ich ihn gepackt und in die Speiseröhre gedrückt. Nach einigen Momenten künstlicher Beatmung öffnete Susan die Augen und blinzelte in den hellen Sonnenschein.
»Er hat mich gestoßen«, sagte sie und zeigte vorwurfsvoll auf ihren Bruder. Schweißbedeckt vor Erregung und Angst, die ich durchstanden hatte, erhob ich mich.
Die Sharps konnten mir gar nicht genug danken. Womit konnten sie mir eine Freude machen? Wünschte ich etwas zu trinken?
Ich entschuldigte mich und sagte, daß ich nach Hause müsse, um mich anzuziehen. Ich verabschiedete mich von Susan, die ahnungslos, wie nahe am Tod sie gewesen war, auf der Gartenschaukel saß.
Fünf Minuten später war ich wieder in meiner Wohnung und suchte nach Sonnenöl, als Sylvia heraufkam. »Du brauchst wirklich eine Ewigkeit«, sagte sie. »Warum kommst du denn nicht herunter? Was ist denn mit dir los?«
Ich war zu heiß und fühlte keine Lust, ihr zu erklären, daß ich, seitdem sie mich zuletzt gesehen hatte, ein Menschenleben gerettet hatte. »Ich kann das Sonnenöl nicht finden.«
Sie zog eine Schublade auf. »Direkt vor deiner Nase!«
Es war mir gelungen, das Postamt zu überreden, mir eine extra lange Telefonleitung zu legen. Deshalb war ich jetzt in der Lage, wie ein Maharadscha im Garten liegen und gleichzeitig die Anrufe entgegennehmen zu können. Ich stellte das Telefon neben mich auf ein kleines Tischchen, bedeckte meinen Bauch mit der Sonntagszeitung, rief Penny und Peter zu, nicht so viel Lärm zu machen, seufzte erleichtert auf und schloß die Augen. Noch keine fünf Minuten waren vergangen, da rief Mrs. Valentine an, die mir stets auf den Fersen war, und sagte, ihre Abmagerungstabletten seien zu Ende und sie brauche ein neues Rezept. Da sie so wenig Rücksicht nahm und mich am Sonntag wegen einer solchen Lappalie störte, antwortete ich ihr gleich rücksichtslos, sie möge mich während der Sprechstunde am Montag aufsuchen, wohin eine solche Angelegenheit gehöre. Bald darauf folgte ein Anruf von Mr. Slocome, der wissen wollte, wie viele Pillen er seinem Kind geben dürfe, ehe sie mit dem Wagen nach Brighton aufbrachen. Ich fragte
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