Auch unter Kuehen gibt es Zicken
stören. Ich lebe das höchste Leben.
Nächtlicher Hirsch
Der September saust vorbei wie ein Pfeil. Tage verrinnen. Werden kürzer. Wie früh’s dunkel wird. Um acht ist schon stockfinstere Nacht.
Seit Ende August ist Hirschbrunft. Die Almböden beben unter dem Gebrüll von Hirschen. Ich hab so was noch nie gehört. Man kriegt Gänsehaut davon. Beim ersten Schrei, der über die Gana-Leit geschmettert ist, habe ich meine Wurzelbürste fallen gelassen.
»RUOAAAAHH!«
Eigentlich wollte ich meine Bergschuhe wieder freilegen, unter einem ganzen Berg aus Dreck und Kuhmist. »Hias! Hast du das gehört!«
»’a.«
»Was war das?«
»A Hirsch. Jetz’ moan i fanga’s o.«
»RUUUUAAAA-OOOOAAAAHH-OOO-AAAAAH!«
Ganz kann ich’s nicht glauben, dass das nur ein Hirsch ist. Aber – ja. Offensichtlich fangen sie jetzt an.
Ich hab ihn King Kong getauft.
Ausgerechnet den will der Baron Bolko schießen dieses Jahr. Kilian sagt, der Hirsch wäre 14 Jahre alt, trüge ein tiefschwarzes Fell im Winter und hätte ein Geweih auf wie ein Gabelstapler. Ich glaub’s ihm. Wir sind Freunde geworden die letzten Wochen. Der Kilian erzählt nicht irgendwelche Geschichten, nur um aufs Blech zu hauen.
Was ich ihm trotzdem nicht sage, ist, dass der Hirsch jede Nacht die Wiese hinter meinem Kammerfenster abgrast. Millimeterkurz. Wenn ich ihn nicht selber gesehen hätte, hätte ich den Hias verdächtigt, dass er da hinten Rasen gemäht hat.
In einer mondhellen Nacht war er zum ersten Mal da. Eigentlich wollte ich raus aufs Klo. Ich habe ihn gespürt, bevor ich ihn gesehen habe.
Nebel im Mondlicht und darin seine Gestalt. Riesig. Er bewegt sich lautlos. Langsam. Mit großer Vorsicht. Und gleichzeitig mit etwas, das mehr ist als Selbstbewusstsein. Er geht nicht. Er schreitet. Wie einer, der Herrscher ist über das Land unter seinen Hufen. Wie ein König.
Hey, King Kong, habe ich geflüstert.
Er muss mich gehört haben. Er muss mich gerochen haben. Ich bin ein Mensch, schließlich. Sein einziger Feind. Aber er ist geblieben. Völlig ruhig. Ich hab mich in dieser Nacht nicht mehr rausgetraut aufs Klo, aus Ehrfurcht.
Inzwischen kommt er fast jede Nacht. Sein mächtiges Geweih bewegt sich kaum, wenn er das Gras abrupft. Und man hört es nicht. Nicht wie bei einer Kuh. Rrrpf, malm-malm, grrrmpf, rrrpf, mampf.
King Kong macht kein einziges überflüssiges Geräusch.
Er ist allein unterwegs. Immer. Nicht wie die anderen Hirsche, in Männerrudeln. Er hat auch keine Weibchen dabei.Ich denke, die holt er sich, einzeln, oder besucht sie, zur rechten Zeit. Weil er die rechte Zeit kennt. Den ganzen Zirkus mit zusammentreiben und bewachen lässt er die anderen veranstalten, hat er längst nicht mehr nötig.
Er bleibt bis zum Morgengrauen. Manchmal bis in der Früh um sechs. Aber nur an den Tagen, an denen der Baron und die Jäger nicht kommen. Wenn sie kommen, ist King Kong verschwunden. Ich hab mich an ihn gewöhnt. Er ist wie ein nächtlicher Liebhaber. Wenn er einmal nicht kommt, schnürt’s mir den Hals zu. Haben sie ihn jetzt? Habe ich den Schuss überhört?
Natürlich fragen sie nach ihm. Der Baron ruft sogar täglich an. Habt ihr den Hirsch gesehen? Wann habt ihr ihn gesehen, wo ist er gestanden, wohin ist er gezogen.
Nichts, sage ich dann. Ich hab nichts gesehen.
Ich weiß nicht, ob sie in meiner Stimme den Vorhang hören, hinter dem ich King Kong verstecke.
Der Einzige, der nie fragt, ist Kilian. Den kurz gefressenen Golfrasen hinter der Hütte wird er wohl längst bemerkt haben. Es ist ja sein Beruf. Ob er den Hirsch selber gesehen hat, weiß ich nicht. Und wenn, sagt er’s nicht. Er sagt selten, was er tut, glaube ich. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass er seinen besten Hirsch auf dem Silbertablett vor der Almhütte erschießen will. King Kong ist was Besonderes.
Mich wundert’s nicht, dass sie ihn letztes Jahr nicht erwischt haben. Er ist klug. Er kalkuliert den Faktor Mensch mit ein.
Einmal kommen sie am Abend. Zu dritt. Kilian, sein Lehrling und der Baron. Aber wieder sehen sie ihn nicht. Wieder schallt kein einziger Schrei vom Wald herunter, und doch wissen wir alle, dass er da ist.
Sie bleiben bis um zehn, die Jäger. Bis es zu dunkel ist. Sie trinken noch ein Achtel Rotwein, jeder, dann steigen sie in ihre Jeeps und fahren davon.
Ich schau ihnen nach. Sitze einmal mehr in der plötzlichen Stille unter dem Rosenbusch wie auf einer Insel undwarte, bis die Geräusche wiederkommen. Ich hab eine Decke um mich
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