Auch unter Kuehen gibt es Zicken
gleich weitergefahren, ins Hochgebirge.
Und meine nächste Tat ist Grünzeug holen, für die Kränze. Ein paar werden aus Almrauschzweigen gebunden, ein paar aus Latschen. Man muss sorgsam mit den Pflanzen auf dem Berg umgehen. Das ist kein Blumengroßmarkt da heroben.
Ich muss raufgehen in den Eiskeller. Das ist ein steiler Kessel zwischen meiner Alm und Annikas Alm. Dort wächst Almrausch in rauhen Mengen, im steilen Hang unter den Latschenkiefern.
Ich hab einen großen Müllsack dabei und eine Gartenschere. Wie ein Dschungelkämpfer schlage ich mich durch das Latschenfeld. Es hat über Nacht geregnet. Die Zweige schütten mir Wasser ins Genick. Auf den losen, moosbewachsenen Steinbrocken rutsche ich aus und schlage mir das 17. Loch ins Schienbein. Das zählt schon gar nicht mehr. Und es lohnt sich, denn der schönste Almrausch wächst natürlich weit droben im größten Dickicht. Wo’s steil ist. Und ich mir vorstellen kann, dass man nicht bremsen kann, wenn’s einen schmeißt. Aber ich habe eine Mission.
Ich zwicke den ersten Zweig. Streichholzdünn, mit dicken Blättern am Ende, gefächert wie Rosenblüten. Vollkommen. Wunderschön.
Es riecht, wie nichts anderes auf der Welt je riechen kann. Nach Regen, nach nassen, uralten Steinen, nach Wald und doch frischer. Wie etwas komplett Neues. Und wie Abschied. Wie kann Abschied so riechen? So neu?
Ich war schon lange nirgends mehr daheim. Alles, was Daheim war, habe ich abgerissen. Die Alm ist jetzt Daheim. Aber mit jedem Zweig, den ich abschneide, geht ein Stück Almzeit vorbei. Ich geh fort, bald. Wohin, weiß ich nicht mehr. Wenn ich jetzt anfange zu weinen, mach ich mich dann lächerlich? Ich glaub’s nicht einmal. Vor wem auch? Hier ist kein Mensch. Ich kann weinen, so viel ich will. Vielleicht war da heroben noch nie jemand. Mich hört niemand, und sehen kann mich auch niemand, im Regennebel, mitten unter den Latschen.
Also weine ich. Und schnipple Almrauschzweige, den ganzen Müllsack voll. Ich zwicke mich in einen Rausch hinein aus Geruch, Gedanken, Sehnsucht und Tränen.
»I woass ned, wohi«, murmle ich dabei.
»Hey, Berg! I woass ned, wohi!«
Ich weiß es auch nicht , sagt der Berg. Du weißt es schon selber. Du musst dir nur zuhören.
Ich hör aber nichts.
Den ganzen Tag hör ich Stimmen und Töne und Wind und Blechdächer, aber wenn ich eine Antwort brauche – hör ich nichts.
Ich muss weiter, Almrausch zwicken. Brauche Material. Mehr. Meine Jeans ist längst voll Regen gesaugt. Meine Hände sind lahm vom Zwicken und meine Knie müde. Aber weiter oben, noch weiter unter den Latschen drin, da wachsen die richtig fetten. Glänzend grün. Die brauch ich noch. Denn die Dora hat den besten und größten Kopfkranz verdient.
Der Stein, auf den ich steige, ist locker. Die Sohle rutscht ab. Rrra-ddammm poltert der Schuh auf den nächsten Stein, der Stein rollt davon. Kullert und springt hinunter, über einen Felsen, steil, bis zum Ende des Latschenfelds. Ich verliere den Halt. Rutsche. Meine Ellbogen krachen irgendwo auf. Steinbrocken schlagen gegen meine Beine. Eine Sekunde lang versucht mein Körper nicht einmal zu bremsen. Fragt stattdessen: Was, wenn du weiterfällst?
Meine lahme Hand grapscht aber schon nach einem Latschenbusch und packt zu. Hält das dünne Ästlein nasse, raue Rinde fest wie ein Straubstock. Und da hänge ich. Ohne wirklichen Boden unter den Füßen. Dafür mit dem Hintern im Geröll. Und einer Hand an einem Zweig, der jetzt von sich behaupten kann, ein rettender Ast zu sein. Meine andere Hand hält den Müllsack fest. Ich sehe, dass meine Füße zwei oder drei Meter Luft unter sich haben. Mein Latschenbusch steht auf einem kleinen Fels, wie auf einer Sprungschanze. Ich bin kein Weltstar im Klettern. Ich werde den Müllsack loslassen müssen. Den ganzen schönen prallen Sack voll Almrausch. Nein, nein, denke ich, das werd ich nicht machen. Aber da saust er schon, ssssswt , aus meiner Hand, überschlägt sich unter mir auf einem Latschenbusch, rollt, schlittert und bremst irgendwo, wo ich ihn nicht mehr sehe. Ich krabble zurück auf den Felsen wie ein Mistkäfer auf einen über ihm hängenden Strohhalm. Von dort krabble ich weiter, bergab. Die Füße voraus. Bis ich meinen Müllsack finde. Der ist nur noch halb voll.
»Aaaaach«, schniefe ich und sammle ein paar verstreute Zweige ein. Zweig für Zweig, so mühsam zusammengezwickt, einfach aus der Hand gesaust.
Es is scho guad jetz’, sagt der Berg. Du host ned wirklich
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