Auch unter Kuehen gibt es Zicken
auffe.« Energisch zeigt er zu der höheren Fichte, damit ich ebenfalls wieder dorthin schaue. »Auffe, auffe, auffe, über d’ Gana-Stoa-Alm drüber, Lanereck gradaus, gradaus, und dann derfst’as ned versaama, do geht der Steig leicht links wieder as Holz eine. Wenns’d im Eiskeller bist, bist z’weit. Oiso. Ficht’n – auffe. Alm – links. Holz – einne. Drüber über’s Lanereck, ent’n wieder o’we, und dann bist’ do.«
Nicken.
»Guad«, seufzt er. »Na hama des aa.«
»Ja, danke«, sage ich, doch der Hias winkt ab und schaut, dass er wieder in seine Hütte kommt, um sich für den Ansturm zu wappnen.
Ich finde den Steig. Nicht sofort. Aber ich finde ihn. Er führt über eine steile Sumpfwiese. Ich habe das Gefühl, ich gehe durch einen Dampfkessel, und wünsche mir ein Buschmesser. Lange Stängel Baldrian und Farn und Blätschen wuchern von beiden Seiten in den Weg und greifen nach meinen Beinen. Grrr. Eventuell bin ich doch nicht für die Wildnis gemacht. Zumindest nicht für eine sumpfige. Ich geh einfach ein bisschen schneller.
Schon bald schaut die obere Gana-Stoa-Alm zu mir runter. Der Weg verliert sich in der Almwiese. Ich laufe links an den drei Almhütten vorbei. Die Türen sind verriegelt. Keiner daheim. Die sind alle auf der Bergmesse heute. Ein paar Koima liegen mit dösigen Augen hinter dem Stall. Denen ist’s auch schon zu heiß.
Ich folge einem vagen Gefühl nach links in den Wald. Nach ein paar Schritten find ich den Weg wieder. Ich schnaufe übers Lanereck und mitten in eine Lichtung. Wie eine Badewanne voll Sonnenlicht, die Wiese unter meinen Füßen so weich. Und kein Geräusch.
Ich bleibe stehen.
An so einem Ort spielen die Märchen, die ich mir als kleines Mädchen ausgedacht habe. Die Geschichten, in denenbei Mondschein die Feen zusammenkommen und Kinderträume aus Spinnweben nähen. Mein Herz klopft schneller. Ich hab nicht damit gerechnet, dass es diesen Ort wirklich gibt.
Da steht ein Gamsbock. Bloß ein paar Schritte vor mir. Aufmerksam schaut er mich an. Ich rühr mich nicht. Ich hab noch nie so nah eine Gams gesehen. Daheim im Wald mal ein Reh. Einen Fuchs. Ein paar Raben. Aber so einen majestätischen Bock nicht.
Ich versuche, nicht zu atmen. Er schaut. Dann pfeift er scharf durch die Nasenlöcher und trabt in den Wald zurück.
Langsam gehe ich weiter. Die Bäume sehen anders aus hier oben. Knorriger und ein bisschen zerfranster. Der Wind und im Winter der Schnee machen ihnen das Leben offensichtlich nicht leicht. Sie sehen tatsächlich aus wie Hexen, Elfen und Trolle.
Jetzt führt der Weg bergab, über den Zaun und bald auf die steilen steinigen Wiesen der Hochalm.
Ein Almlied klingt zu mir herauf. Der Weg verliert sich, kurz vor einer großen Tanne, die ausgerechnet auf einem Felsen wächst. Von hier aus sehe ich die Alm. Zwei Hütten stehen einander gegenüber in einem grünen Kessel. Vor einem Marterl neben einem großen einzelnen Felsbrocken ist der Altar aufgebaut.
Die Messe hat schon angefangen.
Rundrum hocken Menschen in der Wiese oder auf Steinen. Almleute, Bauern mit ihren Familien und Freunden, kleine Mädchen im Dirndl, die Buben in Lederhosen.
Ich gehe so leise wie möglich und bleibe neben einem Latschenbusch stehen.
Eine junge Frau hockt ein paar Schritte weiter im Schneidersitz in der Wiese. Sie lächelt mich durch den Busch an und klopft neben sich auf den Boden. Ich versuche, nicht mit den Marmeladengläsern im Rucksack zu klimpern, und setze mich neben sie.
»Hi«, flüstere ich.
»Hallo. Ich bin die Annika.«
»Karin.«
Ich streck ihr meine Hand hin, und da klimpern doch die Marmeladengläser. Laut, mitten in die Stille nach einem Gebet hinein.
Die Leute drehen sich nach mir um. Manche nicken. Manche schauen einfach wieder nach vorne zum Altar.
Der Pfarrer ist eine junge Frau. Und anstatt des patriarchisch schonungslosen Kirchenbayrisch spricht sie Schwäbisch. Oberallgäu oder so. Sie spricht von Tieren, die uns anvertraut sind, von Natur, die zu uns spricht, und von uns allen. Wie ähnlich wir einander sind, wenn’s um essenzielle Dinge geht. Zweifel und Vertrauen in Gott. Angst. Liebe.
»Glaubst du an die Liebe?«, flüstert Annika.
»Keine Ahnung«, flüstere ich zurück.
Annika grinst mich an, und dann halten wir die Klappe, bis das letzte Lied gesungen ist.
»Komm, jetz’ trink ma an Schnaps. Kennst du meinen Nachbarn schon? Den Sepp? Den musst du kennenlernen!« Annika schleppt mich hinter sich her. Sie ist auch
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