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Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht. (German Edition)

Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht. (German Edition)

Titel: Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anis Mohamed Youssef Ferchichi , Marcus Staiger
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den Wahnsinn getrieben. Es war das schlimmste Jahr meines Lebens. Ich war noch nie so einsam und habe ganze Nachmittage allein verbracht. Vorher hatte ich ja immer Kumpels gehabt. Dort nicht. Dort habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass ich fremd sein kann. Ich hatte auch den Eindruck, dass die Lehrer mich von vorneherein anders behandelt haben, und dann verhält man sich ja automatisch auch anders. Das ist wie eine Spirale und am Schluss weiß man nicht mehr, ob die anderen komisch sind oder man selbst.
    Das war ich alles nicht gewohnt. In Berlin haben die Lehrer alle Schüler gleich behandelt, weil eben alle gleich fremd oder eben nicht fremd waren. In Berlin haben alle meine Kumpels in meiner Nähe gewohnt und ich hatte immer jemanden, zu dem ich gehen konnte. In Bad Soden schnitten mich die Leute aus der Klasse und ich saß im Nirgendwo mit einem Debilen vor dem Fenster, der sich für eine Eisenbahn hielt. Vielleicht ist der auch nur so geworden, weil es dort so scheiße war, und vielleicht hatte ich einfach nur Angst, dass ich genauso werde. Dass ich irgendwann mal anfange, auf meinem Fahrrad ums Haus zu kurven, und denke, ich wäre die Feuerwehr. Dass ich die ganze Zeit »Tatütata, tatütata« brülle und mit dem Kopf kreise, weil ich ihn für ein Blaulicht halte. Davor hatte ich tatsächlich Angst und habe deshalb wahrscheinlich jeden Kontakt mit dem seltsamen Jungen vermieden. In Bad Soden fühlte ich mich einsam und verlassen.
    Mein Vorteil war, dass ich immer sehr schlau war in der Schule. Es fiel den Lehrern schwer, mich nur aufgrund von Antipathie abzustempeln, wenn ich wieder eine Eins im Diktat geschrieben hatte. Wenn ich schriftlich auf Eins stehe und mündlich auf Zwei, was willst du mir dann für eine Note geben? »Deutsch sein« Sechs? Gibt’s als Fach aber nicht.
    Wenn ich mal Schlägereien oder Ärger hatte, wurde das natürlich gleich darauf geschoben, dass ich es ja nicht anders könne, bei der Herkunft. Ich hab mich gerne geprügelt. Schon immer. Wenn einer meine Mutter beleidigt hat: auf die Fresse. Ich bin zwar kein aggressiver Mensch, der jemanden verprügelt, nur weil der einen anderen Fußballverein gut findet, aber wenn einer »Du Hurensohn« gesagt hat oder »Ich fick deine Mutter«, dann gab’s immer eine Schlägerei. Ehre. Stolz. Irgendwie war das tatsächlich in mir drin. Das hat mir keiner beigebracht. Es war wie Atmen. Da denkt man auch nicht drüber nach, das läuft alles vollkommen automatisch ab. Das wird ja erst dann komisch, wenn man sich beim Atmen beobachten will.
    Auf der anderen Seite. Vielleicht wurde es mir ja doch beigebracht, denn in der Hobrechtstraße kannten wir das gar nicht anders. Da waren alle so und natürlich habe ich mich angepasst. Dort hat sich auch ganz früh schon dieses Rudelverhalten herausgebildet, dass wir immer zusammen unterwegs waren, fünf Jungs und einer hat gesagt, wo’s langgeht, und die anderen haben mitgemacht. Wenn es dann mal eine Schlägerei gab, haben immer alle einander geholfen und man hat alles gemeinsam gemacht. Da gab es nicht dieses »Nee, ich mach das jetzt allein« so wie in Bad Soden oder: »Nee, der Philipp, der kann heute nicht, weil wir essen. Mit der Oma« – als ob ich da nicht mitessen könnte.
    Aus der Not heraus war ich dann sogar im Tischtennisverein in Bad Soden. Ich war auch ziemlich gut und meine Mutter bedauert heute noch, dass ich nicht dabeigeblieben bin und Karriere als Tischtennisspieler gemacht habe. Dann wäre wenigstens was aus mir geworden, nicht so ein komischer Rapper, den die Leute hassen. Nein, ein Tischtennisspieler in der Hessenauswahl, der auch mal bei der WM antreten darf, mit dem deutschen Adler auf der Brust. Tja, das wär’s gewesen, aber man hat halt nur ein Leben und meines führte mich zum Glück wieder nach Berlin.
    Nach dem Mauerfall sind wir nämlich endlich, endlich wieder zurückgezogen und ich schwöre, das war der schönste Tag meines Lebens. Als wir damals am späten Abend auf der AVUS in die Stadt fuhren und an diesem Berliner Bär vorbeikamen, der da bei Dreilinden auf dem Mittelstreifen steht, hatte ich Tränen in den Augen. Wir waren endlich wieder zu Hause. Endlich wieder in Berlin.

Berlin und der Rest
    Wenn ich sage, dass ich die Deutschen für ein weltoffenes, gastfreundliches und tolerantes Volk halte, dann sage ich das, weil ich möchte, dass die Deutschen ein weltoffenes, gastfreundliches und tolerantes Volk sind. Weil ich die Deutschen genau so kennengelernt habe und sie

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