Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht. (German Edition)
fühlen. Man braucht keine Angst zu haben, dass sich ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengt, wenn man auf den Markt geht oder freitags in die Moschee.
Wir haben das große Glück, in einem sehr fortschrittlichen Land zu leben, das zivilisatorisch weit entwickelt ist, und das Verrückte ist, dass alle das wissen. Viele meiner Bekannten wissen das, schätzen das auch und verhalten sich teilweise trotzdem nicht korrekt. Natürlich erkennen sie, dass sie es woanders viel schwerer hätten, dass sie es keinen Tag lang unter dem Regime der Hamas aushalten würden, dass sie in Saudi-Arabien nicht glücklich wären, nicht im Irak, nicht im Libanon, nicht in Syrien und vielleicht noch nicht einmal in der Türkei, und trotzdem fällt es ihnen schwer, sich korrekt und den Umständen entsprechend zu verhalten. Aber genauso wenig, wie man tagtäglich als Deutscher die Segnungen der Zivilisation zu schätzen weiß, gelingt das eben meinen Kumpels. Es gibt auch genug Deutsche, die sich von der Gesellschaft verraten oder allein gelassen fühlen. Vielleicht fehlt den Menschen in diesem Land manchmal so etwas wie der Zusammenhalt, eine echte Bruderschaft, echte Brüderlichkeit, weswegen meine Freunde dann wiederum die Familie, die Familienehre und den Familienzusammenhalt über das Gesetz stellen. Das ist vielleicht nicht richtig, aber durchaus menschlich und, wenn man sich fremd fühlt, unter Umständen auch nachvollziehbar, denn nicht alles läuft in streng rationalen Bahnen und kann mit dem Verstand erklärt werden. Ein Gefühl ist eben ein Gefühl. Ich kann mir tausend Mal einreden, dass wir es hier besser haben als an jedem anderen Ort der Welt, ich kann es mir hundert Mal vorsagen, dass Deutschland eines der besten und gerechtesten Rechtssysteme der Welt hat, ich kann zig Mal argumentativ belegen, dass die Polizei megakorrekt ist und es mir hier besser geht als irgendwo sonst auf der Welt – trotzdem kann ich mich in diesem Land als Fremder fühlen. In diesem Fall ist die Familie dann immer noch alles. Sie ist der Rückhalt, den ich habe, meine Lebensversicherung. Egal, wo du lebst, deine Familie ist deine Familie und deine Verwandtschaft wird immer deine Verwandtschaft bleiben und der bedingungslose Support innerhalb der Familie wird immer derselbe sein. Der Schutz, die Solidarität, die gegenseitige Hilfe innerhalb dieser großen Familien, dieses Gefühl von Geborgenheit ist nicht zu unterschätzen, kommt aber bei der Diskussion um organisierte Kriminalität und Drogenhandel immer zu kurz. Dabei ähnelt der Alltag in solchen Familien wahrscheinlich eher dem Film Kindergarten Cop mit Arnold Schwarzenegger als dem Paten mit Al Pacino.
In der Familie passt eben jeder auf jeden auf. Hassan ist nicht unbedingt der Typ, der abends gerne Babysitter spielt, aber wenn seine Geschwister anrufen und ihn darum bitten, dann macht er das. Sein Bruder Fikret, groß und breit gebaut, genauso. Der rennt mit neun Kindern durch die Gegend, weil seine Schwester ihn anruft und ihm sagt, dass er die Kinder nehmen soll.
Oder wenn die Mutter irgendwo hingefahren werden muss, dann ruft sie ihren ältesten Sohn an, und wenn der nicht kann, ruft er den zweitältesten an und so weiter. Das ist dann manchmal ganz witzig, wenn die Mutter bei Hassan anruft. »Ja, okay Mama, warte kurz.« Dann legt er auf und ruft bei Jay Jay, seinem jüngeren Bruder, an. »Wo bist du? Beim Fußball? Yallah , pack deine Sachen zusammen, geh deine Mutter abholen! Was Fußball? Ich ficke dein Fußball. Fahr da jetzt hin!«, und dann muss Jay Jay da hin. Dann gucke ich Hassan an und meine: »Na, ist da einer ein bisschen faul?«
»Öh, was ist mit dir? Ich bin doch gerade beim Sport. Was soll ich machen?«
»Ja, aber der ist beim Fußball.«
»Ach, der soll nicht so tun, als wäre er Fußballstar. Spielt seit zwanzig Jahren Fußball, hat doch eh nichts gebracht.«
Natürlich wird auch da versucht, seine Aufgaben auf den anderen zu schieben, aber trotzdem: An Hilfe mangelt es innerhalb der Familie nicht. Da ist immer jemand da für dich, aus diesem Grund musst auch du immer da sein für die anderen. So sind die Regeln.
Teil 5
99 Probleme … – womit wir uns sonst noch so rumschlagen müssen
Ausbrechen aus der Struktur – für immer Hartz IV, für immer kriminell?
Immer wieder taucht das Argument auf, dass Familienstrukturen, wie sie in der sogenannten Unterschicht vorherrschen, ganze Generationen von asozialen Sozialhilfeempfängern schaffen, denn
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