Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht. (German Edition)
auf und verschrecken die Öffentlichkeit. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Konflikten um geschäftliche Auseinandersetzungen, teilweise beruhen sie aber auch auf archaischen Traditionen, die mit verletzter Ehre und Blutrache zu tun haben. Irgendein Halbwüchsiger hat Ärger mit einem anderen und schon ist wieder der ganze Clan involviert.
Wenn ich als Mitglied einer großen Familie Ärger mit jemandem aus einer anderen Familie habe, dann habe ich in diesem Moment Stress mit seiner gesamten Sippschaft. Wenn er dann Hilfe holt, kommen mindestens zehn aus seiner Familie plus die, die mit seiner Familie abhängen, und die Sache weitet sich aus. Jede Familie, die etwas gilt in dieser Welt, hat einen gewissen Kreis von Leuten um sich herum, die sich anbiedern und die ebenfalls dabei sind, wenn es Ärger gibt. Umgekehrt rufe aber auch ich meine Familie und dann kommen ebenfalls zehn Mann plus ein paar Soldaten und dann heißt es eben »Familie gegen Familie« und nicht mehr »ein Idiot hat sich mit einem anderen Idioten geprügelt«. Daraus können tatsächlich richtige Kriege entstehen und ich weiß zum Beispiel aus Berlin, dass sich namhafte Familien mit Schusswaffen bekämpfen, weil sie in irgendwelche bescheuerten Konflikte hineingeraten sind, die klein angefangen haben und ganz groß zu Ende gehen. Vendetta. Familienehre. Blutrache – weil eben immer sofort alle alarmiert werden, wenn es zu einer Auseinandersetzung kommt.
Dieses Verhalten ist tatsächlich schwer nachvollziehbar, wenn nicht sogar komplett bescheuert, denn natürlich könnte und sollte man die Dinge auf sich beruhen lassen, wenn sich zwei Halbstarke prügeln. Stattdessen entstehen riesige Kettenreaktionen und nach zwei Stunden prügeln sich dann womöglich Typen, die noch nie zuvor irgendetwas miteinander zu tun gehabt haben, sich noch nie zuvor gesehen haben und eigentlich auch keine Probleme miteinander haben müssten. Dann werden Leute verletzt, was wiederum eine Reaktion der jeweiligen Gegenseite erfordert, was erneute Reaktionen heraufbeschwört und so geht das weiter, weiter und weiter, bis vielleicht ein zäher und teurer Friede ausgehandelt wird.
Vielleicht macht so ein Verhalten in den Zedernwäldern des Libanon oder in der irakischen Wüste Sinn. Vielleicht muss man in Gesellschaften, in denen man sich nicht auf staatliche Institutionen verlassen kann, so handeln. Lebt man allerdings in der Bundesrepublik Deutschland und verhält sich immer noch so, dann ist da etwas schiefgelaufen.
Wenn man in den Bergen von Kurdistan in einen Konflikt gerät, dann gewinnt derjenige, der die größere Waffe dabeihat oder schneller schießt. Die Menschen dort leben in ständiger Unsicherheit und es kann sein, dass Leute vorbeikommen und dich einfach töten oder zusammenschlagen. Es kann sein, dass du nie wieder auftauchst, wenn du in einem solchen Land Ärger hast. Teilweise reicht da schon eine kleine Auseinandersetzung im Straßenverkehr, damit der andere aussteigt und dich mit einer Waffe angreift. Dann hilft dir niemand, außer deiner Familie. Auch wenn es hier, in der Bundesrepublik Deutschland, anders ist, so ist diese Art zu denken noch tief verwurzelt in den Familien. Der Staat, die Gesellschaft, die staatlichen Stellen und die Polizei sind Feinde. Die Außenwelt? Feinde! Und selbst wenn die Menschen erkennen, dass es hier anders ist, kommen sie trotzdem nicht aus ihren gelernten Verhaltensmustern heraus. Irgendeine Verbindung scheint da nicht hergestellt worden zu sein. Irgendeine Brücke ist da kaputt, denn natürlich ist es hier anders. Hier kann man in der Regel davon ausgehen, dass einem nichts passiert und jeder Mensch das Recht auf körperliche Unversehrtheit hat. Ich kenne viele Leute, die aus dieser extrem anderen Kultur stammen und die dieses Recht extrem zu schätzen wissen. Die auch zugeben, dass es einen Unterschied macht, ob man hier ins Krankenhaus eingeliefert wird oder im Libanon. Wenn man hier ins Krankenhaus kommt, wird man behandelt. Wenn man in Beirut ins Krankenhaus geht und leider kein Geld dabeihat, dann kommt man gar nicht erst rein. Und wenn man doch reinkommt ohne Geld, dann kommt man nicht unbedingt lebendig wieder heraus. Das ist ein Unterschied.
Natürlich kann einem auch hier Schlimmes passieren und man kann auf der Straße angegriffen werden, es gibt auch hier Polizeiwillkür, und wer Geld hat, wird schneller und besser behandelt, wenn er zum Arzt muss, aber zunächst einmal kann man sich hier doch sicher
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