Auf all deinen Wegen - Lene Beckers erster Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
zu helfen. Irgendwie galt das auch für sie selbst. Wie lange waren sie jetzt schon getrennt? Sechs Jahre? Manchmal, wenn sie zusammensaßen, dachte sie, dass, wenn auch kein Ehemann mehr, er doch ein wirklich guter Freund geblieben war.
» Stell dein Gepäck in dein Zimmer, wir gehen noch eben zum Italiener. Du musst etwas essen und ich habe nichts im Haus«, bat Lene.
Trotz Sophies Prote st saßen sie bald in ihrer Eckkneipe, die den Charme der 70er Jahre gnadenlos bewahrt hatte. Die braun-orange gemusterten Lampenschirme waren etwas zu hoch angebracht, sodass Sophie in der harten Beleuchtung noch blasser aussah. In dem Augenblick kam Susanne durch die Tür. Ernst nahm sie jeden von ihnen fest in die Arme.
» Das war ja heute wieder einmal die Hölle im Büro. Ich musste noch die neuen Verträge fertig prüfen, sonst wäre ich viel schneller gekommen. Es tut mir so leid wegen Joanne. Wie grausam.«
Ihre grü nen Augen waren voller Mitgefühl. Als Jonas vor einem Jahr seine damals neue Freundin mitgebracht hatte, war es gerade ihre spontane Herzlichkeit, die sie alle sofort dazu gebracht hatte, diesen Rotschopf mit der dicken Haarmähne in ihre Familie aufzunehmen.
S ophie beschrieb noch einmal ihren Schock, als der Anruf von Onkel Will kam. Sie war sich sicher, dass es nicht Marc gewesen sein konnte.
» Joanne hat ihn mir immer so lebhaft beschrieben, dass ich das Gefühl hatte, ihn selbst zu kennen. Groß, schlank, dunkle Augen und dunkles Haar. Sein Zwillingsbruder John – sie sind zweieiig, sich aber sehr nahe – sieht etwas kräftiger aus und sein Haar ist auch wohl etwas heller. Marc ist der Ernstere von beiden, verlässlich, humorvoll, intelligent, sportlich – bitte, ich zitiere nur Joanne. Sie schrieb dauernd, wie liebevoll er sei und wie sehr er sie verwöhne. Dabei auch noch zärtlich. Kurz, der Mann, den sich jedes Mädchen wünscht. Und den man nicht bekommt. Mist, jetzt muss ich doch heulen.«
» Komm«, beruhigte sie Jonas, »du wolltest doch weiter von Joanne und Marc erzählen.«
» Ja«, riss sich Sophie zusammen, »also Marc ist ein Mann wie ihn nur Joanne finden kann. Ihr wisst ja, wie sie immer alles im Leben bekam – und jetzt …«
» Er hat einen Zwillingsbruder?« hakte Lene nach.
» Ja. John. Er hing ständig mit den beiden zusammen. Manchmal war es Joanne fast zu viel. Aber andererseits – wenn man einen von ihnen hatte, bekam man den anderen gratis dazu, schrieb sie einmal. Lustiger Ausdruck, oder? John ist der Leichtere, Fröhlichere von den beiden. Wohl nicht so begabt wie sein Bruder, anstrengend, wenn auch sehr liebenswert auf seine Art. Ihn werden wir ja kennenlernen. Er hat auch Jura studiert, ist jedoch noch nicht so weit wie Marc es war. Er wechselt gerade an die Uni in L.A., warum auch immer.«
Inzwischen war Sophi es Thunfischsalat gekommen, aber sie stocherte nur lustlos darin herum. Dann schob sie den Teller weg und griff nach ihrem Rotweinglas.
Sie sprachen noch eine halbe Stunde ü ber ihre Vermutungen, ihre Wut über diese Morde. Wer, verdammt, hatte das getan? Konnte so etwas tun?
Susanne verließ sie an der Straßenbahnhaltestelle. Jeder seinen Gedanken nachhängend gingen sie durch die nächtlichen Straßen. Irgendwie war es nicht mehr so kalt. Es roch plötzlich schon nach Frühling, und die Krokusse und Forsythien blühten bereits, wie Lene im Licht der Straßenlaternen sah. In den Bergen war die Natur noch viel weiter zurück.
Was fü r ein dramatischer Tag heute, dachte Lene, als sie in ihrem Schlafzimmer allein war. Sie hatte noch mit Sophie über Eric sprechen wollen, aber Sophie hatte abgewinkt. »Das ist jetzt nicht so wichtig. Später.« Sie schaute aus dem Fenster in den Garten und sah ganz hinten im Mondlicht die beiden hohen Ulmen, die sie so liebte. Es war, als ob die Ruhe der alten Bäume auf sie überging und sich in ihr ausbreitete. Sie dachte an Joanne, an Will und Sam, an Matthew und Thomas und war voller Trauer.
Im Einschlafen hatte sie plö tzlich ein Bild vor sich: Lona zusammen mit ihren vier Töchtern, die Joanne auf der anderen Ebene erwarteten. Es war tröstlich.
Kapitel 4
San Francisco
Sonntag, 3. April, 23 Uhr
Mike Fuller stü tzte seinen Kopf in beide Hände und fuhr sich dann durch sein dunkles Haar. Kräftig massierte er die Kopfhaut und versuchte so, seine Müdigkeit zurückzudrängen. Jetzt bloß nicht einschlafen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er sich morgens beim Aufwachen mit dem Kopf auf dem
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