Auf all deinen Wegen - Lene Beckers erster Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
geschlossen. So konnte man sie nicht sehen, falls schon jemand auf wäre auf den Höfen, an denen sie vorbei mussten.
» Wie weit wollen wir fahren’, fragte Ferdinand flüsternd.
» Nach Schweinfurt mindestens, da suchen wir uns ein Zimmer « , antwortete sie ebenso leise.
Wahnsinn ig mutig, stöhnte Sophie. Lene dachte genauso. Auch wenn die Zwanzigerjahre später ziemlich verrückt gewesen waren, war das sicher zu dieser Zeit mehr als ungewöhnlich. Elise hat uns erzählt, dass der geschockte Otto sie dann zu Hilfe gerufen hat. Sie war sofort nach Würzburg und dann nach Schweinfurt gefahren, hat alle Hotels abgesucht, die in Frage kamen. Bis sie sie gefunden und mit zu sich nach Hause genommen hatte.
Anni saß allein auf dem großen Bett von Elises Gästezimmer und fühlte sich noch wie betäubt. Wurde ihr immer alles an Freude nur weggenommen? Erst Gustav und jetzt Ferdinand! Sie war böse auf ihre Schwester, auch wenn sie wusste, warum Elise so gehandelt hatte – und dass sie recht hatte. Es klopfte an der Tür. Otto. Ein sehr ernster – und wie es aussah – verzweifelter Otto. Leise schloss er die Tür, kam auf sie zu. Forschend sahen sie sich an. »Warum, Anni?« In diesem Augenblick passierte etwas mit ihr. Vielleicht wurde sie erwachsen. Sie zog ihn zu sich auf die Bettkante, und das erste Mal in ihrer Ehe sprach sie offen über all das, was sie bewegt hatte. Von Gustav, von der Hochzeit und der Information über Ottos Bruder, über ihre Angst, dass dessen Krankheit erblich wäre. Über ihren Entschluss – sie setzte mit dieser Offenheit alles auf eine Karte.
Otto hö rte ihr zu – und nahm sie schließlich in die Arme. Verstand sie und verzieh ihr. Und bat sie wieder mit nach Hause zu kommen. Bald zeigten sich bei Anni die ersten Anzeichen einer Schwangerschaft, und Otto und Anni bekamen zwei Tage vor Weihnachten einen kleinen Sohn, der ihr großes Glück wurde. Ein wirkliches Weihnachtsgeschenk.
Sophie rechnete laut, zä hlte an den Fingern ab.
» Was meinst du, war das nun der Sohn von Otto oder von Ferdinand?«
Lene grinste und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Diese Frage wurde nie gestellt.«
Sie wurde wieder ernst. »Ich weiß nur, dass er direkt nach dem Abitur in Russland erfroren ist. Anni hat es erst nach jahrelangem Suchen über den Suchdienst erfahren. Das war das Schwerste in ihrem Leben.«
Einen Moment war Stille zwischen den beiden Frauen. Dann sah S ophie hoch.
» Da fällt mir ein, was ich schon immer fragen wollte. Wisst ihr eigentlich, was aus Zacharias, dem Brandstifter, geworden ist? Wie lange war der damals im Gefängnis?«
» Das weiß ich nur von Elise. Er hatte eine langjährige Gefängnisstrafe, so zehn bis dreizehn Jahre, bekommen, da er in Kauf genommen hatte, dass die ganze Familie damals hätte mit verbrennen können. Viel später hat er dann geheiratet, hatte auch ein Kind. Aber dann eines Tages sind sie weggezogen.«
» Gut, genug der Familiengeschichte. Ich danke dir für das köstliche Abendessen und jetzt schlafen wir, ja? Gute Nacht, meine Mama.«
Und nach dem Gute-Nacht-Kuss sprang sie in ihr Bett, zog die Decke ü ber die Nase und war fast sofort eingeschlafen.Lene lag noch wach. Die letzten Sätze klangen in ihr nach. Auch nach Amerika? Damals, Anfang des 20. Jahrhunderts, ebenso wie Ende des 19. Jahrhunderts waren viele Deutsche ausgewandert, besonders viele Franken. Da hatte Jonas Recht. Sie griff nach ihrer Reisetasche und suchte die Aktenordner von Fred Masters’ Familie, die ihr Mike noch zum Abschied in die Hand gedrückt hatte. Jetzt war vielleicht die letzte Möglichkeit darin zu lesen. Schlafen konnte sie sowieso noch nicht. Sie schlug den ersten Ordner auf und las …
Kapitel 30
» Martin Masters«, stand auf dem Deckel. Die erste Nachricht, die sie von ihm in den losen Zetteln fand, war wieder die Schiffsfahrkarte nach Amerika. Er hatte da noch Martin Meister geheißen. Dann kam das Foto, an das sie sich gerade erinnert hatte. Martin in der ersten Klasse. Diesmal untersuchte sie es genauer, hielt es direkt unter die Nachtlampe. Das war doch nicht möglich! Ihre Großtante Margarethe stand hinter der Klasse in der rechten Ecke. Bestimmt fünfundvierzig Kinder vor ihr, zum Teil auf Stühlen stehend, so dass sie fast ganz verdeckt war in diesem rührenden Gewusel von aufgeregten Kindergesichtern in angespannter Haltung. Sie war Martins Lehrerin gewesen! Die Welt war ja noch kleiner, als sie gedacht hatte! Ihr Herz
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