Auf all deinen Wegen - Lene Beckers erster Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
schien starr vor Entsetzen. Anni war aufgesprungen, rannte zu ihm. » Aber lass dir doch erklären… «
» Du brauchst mir nichts zu erklären. Ich habe dir extra nicht geschrieben um deine Liebe, deine Treue zu testen. Denn alle sagten, du wärst zu leichtsinnig für mich. Ich wollte ihnen das Gegenteil beweisen. Und wollte es nicht glauben, als ich heute nach Hause kam und erfuhr, dass du… « Er konnte nicht weiter sprechen, drehte sich um und rannte hinaus. Anni stand da wie versteinert. Dann schluchzte sie auf, raffte ihr Brautkleid und rannte nach oben. Dort hatte sie sich im Brautgemach eingeschlossen und die Tür die ganze Nacht nicht geöffnet. Kein Flehen von Lona, Lorenz, Elise oder Otto half. Sie wollte niemanden mehr sehen und weinte sich gegen Morgen in den Schlaf.
Sophie hatte die Augen weit geö ffnet. Ihre ganze Mimik drückte Mitgefühl aus. Auch Lene fühlte sich wieder berührt von dieser schrecklichen Geschichte, die sie der 20-jährigen Anni angetan hatten.
» Und dann? Was passierte dann? Hat sie ihren Mann noch geliebt?«
» Alle glaubten, sie hätte sich arrangiert. Es war ein schweigsamer Mann, auch später für uns Kinder, wenn wir sie besuchten, schwer zu verstehen. Ihre Schlafzimmer lagen in verschiedenen Stockwerken – aber das war viel später. Denn, hier geht die Chronik weiter …«
13.03.1921
Anni sah sich noch einmal im Haus um. Dem Haus, das ihres geworden war und das sie heute verlassen wollte, alles aufs Spiel setzend. Nun waren sie schon sechs Monate verheiratet. Sie bemühte sich wirklich sich an diesen Fremden, der ihr Mann war, zu gewöhnen. Aber sie konnte ihn nicht aushalten in seiner stillen Ernsthaftigkeit. Immer saß er ruhig da, wenn er nicht draußen war, entweder über der Buchführung oder irgendeiner Planung oder er las. Sicher, er war ein wirklich guter Landwirt und sie lebte in einem Luxus, den sich manche erträumten. Sie sah sich in dem geschmackvollen Herrenzimmer um. Tiefe bequeme Ledersessel, in denen man versank, ein großer, runder und glänzender Mahagoni-Tisch, ein wundervolles großes Ölbild von einem Reiter, dessen Pferd sich gerade aufbäumte und ein wuchtiger Bücherschrank.
Sie warf noch einen Blick in die groß e Küche. Ihre Haushälterin und die beiden Dienstmädchen mussten eben allein zurechtkommen. Natürlich war das viel verlangt, auch wenn es jetzt im Winter nur dreißig Menschen waren, die jeden Tag versorgt werden mussten. Im Sommer würden es noch sechsunddreißig Mädchen aus der Rhön mehr sein, die bei der Ernte halfen. Hatte man ihr erzählt. Im Esszimmer würden sich heute und in den nächsten Tagen erst einmal nur Otto mit dem zweiten Inspektor und den acht Praktikanten von anderen Höfen um den Esstisch versammeln. Sie würde auf jeden Fall versuchen den Skandal, den sie gerade verursachte, irgendwie zu überleben.
Ferdinand wartete schon drauß en, es war erst vier Uhr morgens und sie hatte sich aus dem Bett geschlichen, bevor das Haus wach wurde. Vielleicht würde sie Otto eines Tages alles erklären können. Und wenn nicht, würde sich ein anderer Weg finden. Sie konnte im Notfall immer noch ihrem Vater den Haushalt führen. Sie spürte einen Stich im Herzen, als sie an den Tod der Mutter dachte. Sie wäre entsetzt, wenn sie wüsste, was ihr Wildfang gerade wagte. Aber Anni wollte ein Kind - und sicher nicht von einem Mann, in dessen Familie es Geisteskrankheit gab! Und Ferdinand reizte sie. Das musste sie zugeben. Mit ihm würde es leicht sein. Nicht nachdenken – geh jetzt los, befahl sie sich. Denk an Marge, die sich auch ihr Glück erkämpft hat.
Sie ö ffnete leise die Eingangstür und stieg - wegen der Dunkelheit ungewohnt vorsichtig - die Stufen der Eingangstreppe hinunter. Unten wartete Ferdinand, der erste Inspektor, der gerade seine Stellung und damit seinen Lebensunterhalt riskierte. Ernst sah er sie an, aber aus seinen Augen leuchtete auch Verliebtheit. Und eine Spur Abenteuerlust. Sie wandte sich ab, stieg schnell in den Landauer, ihren beachtlich kurzen Rock – er ging nur bis zur Mitte der Wade - noch aus der alten Gewohnheit heraus raffend. Wieder einmal war sie froh, dass die langen Röcke jetzt passé waren. So hatte man viel mehr Bewegungsfreiheit. Die Pferde waren unruhig, sie mussten weg, bevor sie ertappt wurden. Das neue Auto – grün und mit Außengangschaltung – mochte sie nicht nehmen. Es wäre zu dreist gewesen. Gott sei Dank hatte Ferdinand das Verdeck des Landauers vollständig
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