Auf all deinen Wegen - Lene Beckers erster Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
klopfte ganz aufgeregt. So seltsam war dieses Zusammentreffen. Dann fand sie einzelne Briefe – von Martins Großeltern in Bamberg. Sie las sie alle atemlos. Die meisten waren zu seinem Geburtstag. Steif fingen sie immer mit der Floskel an: Lieber Martin! Wie geht es dir? Uns geht es gut. Hoffen von dir dasselbe.
Lene musste lachen. Dass man damals so geschrieben hat! Sie hatte früher mit ihrer Mutter Blödsinn gemacht und gefragt, was sie denn schreiben solle, wenn einmal wieder ein Dankesbrief nach Weihnachten fällig war. Und dann wörtlich diesen Briefanfang, bis ihre Mutter nur noch lachte und » Hör auf, hör auf« flehte. » Ist schon gut, dann eben keinen Brief!« Natürlich hatte sie dann doch geschrieben. Ohne diese Floskel. Aber es blieb ihr Witz. Und nun stand es hier und war ernst gemeint.
Dann gratulierten sie steif zum Ge burtstag und berichteten noch vom Wetter, von der Ernte, die sie anscheinend als Tagelöhner einbringen halfen, von ihrem Hund, den Martin wohl gut kannte und geliebt hatte. Das wiederum war feinfühliger als Lene gedacht hätte. Es klang auch viel Sehnsucht aus diesen ungelenken Briefen. Einmal schrieben sie, dass das Fräulein Margarethe kurz hier gewesen war, zurück von Amerika.
» Sie ist noch hochnäsiger als früher, jetzt, wo sie eine Studierte ist. Wenn ich daran denke, wie gemein sie dich behandelt hat! Jetzt hat sie so getan, als ob sie deine Großmutter nicht kennt, als sie ihr auf der Straße begegnet ist. Aber was will man von der Familie auch sonst erwarten! «
Dass sie dann ein paar Tage spä ter wieder zurückgefahren sei um in Amerika zu heiraten.
» Das wird deinen Vater interessieren « , schrieben sie. Wieso das? Aber es war schon seltsam, dass überhaupt diese Sätze in einem fremden Brief von 1911 zu finden waren. Dann gab es einen Brief von 1915. Es war sogar kurz vom Krieg die Rede. Und plötzlich steht da wieder, dass der Mann von der Schwester von Fräulein Margarethe gefallen ist.
» Da sehen die auch mal, was Unglück ist « , stand da und Lene prallte zurück vor diesem gehässigen Ton. Warum sprachen diese armen Leute so abfällig von ihrer Familie? Eins wusste Lene, ihre Großmutter war wirklich das gewesen, was man eine »gute Frau« nennt. In ihrem Dorf hatte man sie geliebt, weil sie sich während der schlimmen zwanziger und dreißiger Jahre um die kranken und armen Leute kümmerte. So hatte sie immer zur Weihnachtszeit für alle werdenden und jungen Mütter riesige Weihnachtsstollen gebacken und die dann selbst zu ihnen gebracht. Und in der Reichspogromnacht damals auch Juden aus der Nachbarschaft bei sich versteckt. In ihrer Familie hatten sie sich früher immer um die Armen gekümmert. Das hier verstand sie nicht.
Lene las weiter. Martins Vater hatte wohl am Hafen gearbeitet. In New York – als Gelegenheitsarbeiter. Aber dann war die Familie nach Philadelphia gegangen, und sein Vater musste versucht haben Martin in der Brauerei von Lonas Bruder für eine Lehre unterzubringen. Der hatte das aber strikt abgelehnt und seinen Vater hinausgeworfen. Es folgten wieder Hasstiraden.
Uncle Robert? Was war mit den beiden Familien, die so ve rflochten waren in gegenseitiger Abneigung, dass sie sogar über den Ozean in das fremde Land reichte, wo man doch eigentlich hätte zusammenhalten müssen? Martin war dann zu einem Schuster in die Lehre gegangen. Offenbar war er der Stolz der Großeltern, wohl der erste in der Familie, der eine richtige Lehre absolviert hatte.
» Das hätte dein Vater ja auch damals vielleicht geschafft, aber das ist dann durch all diese Ungerechtigkeit und Gemeinheit zerstört worden « , schrieben sie. Lene wünschte, sie würden nicht so in Rätseln sprechen. Sie fand ihre Lektüre nun doch sehr spannend. Der letzte Brief war von 1921.
Wir freuen uns so, dass du dieses katholische irische Mädchen kennengelernt hast. Das ist sicher jemand Gutes für dich. Und was du von der Hochzeit schreibst, hat uns glücklich gemacht – auch wenn es das Leid deiner Großmutter ist, dass sie nicht dabei sein durfte.
Dann kam noch ein letzter Absatz.
Lieber Martin, ich bin schwer krank und weiß nicht, wie oft ich dir noch schreiben kann. Auch deiner Großmutter geht es jeden Tag schlechter. Sie kann nicht schreiben, wenn ich nicht mehr da sein sollte. Ich weiß nicht, was werden wird. Aber versprich uns eines:
Vergiss nie, was die uns angetan haben und rä che dieses Unglück eines Tages. So wie sie unsere Familie ins Unglück
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