Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
Mann mit hoher Wahrscheinlichkeit an Sepsis, bedingt durch diese Wunde, gestorben war. Es bestand jedoch eine ganz geringe Wahrscheinlichkeit, dass er aufgrund seines allgemein schlechten Gesundheitszustandes auch so gestorben wäre. Der Tatbestand eines Tötungsdelikts entfiel damit (im Zweifel zugunsten des Angeklagten). Aber auch sonst war es schwer, eine Anklage zu erheben. Genau genommen waren alle Mitarbeiter des Heims, die mit dem alten Mann zu tun gehabt hatten, Beschuldigte. Sie konnten die Aussage verweigern und taten dies, genau wie die Heimärztin. Ich stieß auf eine Mauer des Schweigens. Das Einzige, was mir blieb, waren die beschlagnahmten Pflegeunterlagen der Station. Darin war in unverständlichen Abkürzungen festgehalten, wer wann Dienst gehabt hatte. Unklar blieb außerdem, wer in welchem Bereich der Etage tätig gewesen war. Ich entschied mich trotzdem, gegen die Ärztin, die Pflegeleiterin |66| der Station und die Heimleiterin wegen fahrlässiger Körperverletzung vorzugehen. Die Anklage stand auf dünnen Beinen. Ich beruhigte mich damit, dass es im ungünstigsten Fall wenigstens ein Warnschuss vor den Bug wäre. Man musste zumindest deutlich machen, dass entsprechende Fälle verfolgt werden. Hier hatten schon zu viele weggesehen. Ich als Staatsanwalt würde das nicht auch noch tun. Später hörte ich, dass das Verfahren gegen eine Geldbuße eingestellt worden war. Ich war ziemlich enttäuscht, aber nicht unbedingt überrascht.
Das zweite »Gürteltier« war ein umfangreiches Ermittlungsverfahren gegen den gebürtigen Araber Hamid D., einen Fahrschullehrer. Arabisch sprechenden Kunden bot er an, für ein Entgelt von etwa 1000 Euro den Nachweis einer erfolgreich abgelegten theoretischen Prüfung zu besorgen. Es sei doch recht umständlich, die deutsche Sprache und diese ganzen Verkehrszeichen, von denen ohnehin nur ein Dutzend wichtig seien, zu lernen. Dazu muss gesagt werden, dass die schriftliche Prüfung durchaus in anderen Sprachen, zum Beispiel Arabisch, abgelegt werden kann.
Irgendwann fiel einem Aufsicht führenden Prüfer auf, dass er den Kandidaten links am Fenster doch vorgestern auch schon bei einer schriftlichen Prüfung gesehen hatte. Er rief die Polizei und der Mann wurde festgenommen. Der Beschuldigte, Cemil K., gestand in der Untersuchungshaft vor dem Ermittlungsrichter und gab auch noch zwei weitere Fälle zu. Er habe von dem Fahrlehrer 200 Euro je Prüfung und die jeweiligen Personaldokumente erhalten. Anschließend identifizierte er den Fahrlehrer anhand einer sogenannten Wahllichtbildvorlage, bei der ihm verschiedene, |67| namentlich nicht gekennzeichnete Fotos gezeigt wurden. Nach dem Geständnis wurde er gegen die Auflage entlassen, sich wöchentlich bei seinem Polizeirevier zu melden. Er wurde nie wieder gesehen.
Prüfungsbögen der letzten Monate wurden in großem Umfang auf Fingerabdrücke hin überprüft. Dabei stellte sich heraus, dass der Beschuldigte zumindest dreizehn theoretische Prüfungen unter wechselnden Personalien absolviert hatte (allesamt Fahrschüler von Hamid D.). Die Ermittlungsakte wuchs und wuchs. Die dreizehn Beschuldigten, die sich bei schriftlichen Prüfungen hatten vertreten lassen, konnte ich leicht anklagen. Wie sollte ich aber den Fahrschullehrer überführen? Sowohl er als auch die anderen Beschuldigten mussten nicht aussagen (um sich nicht selbst zu belasten), was sie auch nicht taten. Die belastende Aussage des Prüfungskandidaten vor dem Ermittlungsrichter konnte zwar durch Verlesen des richterlichen Protokolls in den Prozess eingeführt werden. Es war aber mehr als fraglich, ob das reichen würde. Da, wo sich für das Gericht Zweifel an der Glaubhaftigkeit dieser Aussage ergeben und sich Fragen aufdrängen würden, schweigt das Papier. Ohne seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung wäre mit der Aussage des Prüfungskandidaten Cemil K. nichts anzufangen. Der Verteidiger würde die Anklage in Stücke reißen. Ob man den untergetauchten Cemil K. jemals fassen würde, war unklar. Seit seinem Verschwinden waren bereits zwei Jahre vergangen.
Wie nun weiter? Der Fahrschullehrer musste unbedingt aus dem Verkehr gezogen werden. Es handelte sich nicht um ein Kavaliersdelikt. Führerscheine ohne theoretische Kenntnisse zu verteilen, konnte auf Dauer nicht gutgehen. |68| Musste erst ein schlimmer Unfall passieren? Ich entschied mich, nicht länger zu warten und den Fall zur Anklage zu bringen. Die Anklageschrift war gerade fertiggestellt,
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