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Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt

Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt

Titel: Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pragst
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nie unbeschwert auf andere zugehen und waren deshalb ungenießbar und unausstehlich? Ertappten sie sich morgens dabei, wie sie misstrauisch ihr Spiegelbild beäugten? Dafür wirkten sie (zumindest |63| in unserem morgendlichen Café Jura) eigentlich viel zu fröhlich und aufgeschlossen. So erfüllte das quirlige, muntere Geschwatze von Mona genauso unser Zimmer wie das dröhnende Lachen von Jens. Ich hatte auch nie gehört, dass einer von ihnen Supervisionen bei einem Psychologen oder Ähnliches wahrnahm. Vielleicht härtete man mit der Zeit ab oder verdrängte belastende Gedanken – irgendwohin?
    Auch Oberstaatsanwalt Berndt nahm ab und zu an der Kaffeerunde teil und erzählte fröhlich drauflos. Er hatte zwei Themen, entweder ein paar ältere Fälle oder Geschichten von seinen Urlaubsreisen. Die älteren Fälle waren ganz amüsant. Nach etwa zwei Monaten merkte ich aber, dass mir die meisten bekannt vorkamen. Wenn er mit seinen Fällen anfing, wurde es in der Kaffeerunde schnell leer. Anna und ich konnten aber nicht gehen, weil es unser Zimmer war. Wir warteten dann geduldig, bis er zu einem Ende kam. Das konnte sich hinziehen. War Annas oder mein Stuhl gerade frei – mehr Stühle gab es im Zimmer nicht   –, nahm er Platz und erzählte weiter. Er schien es nicht zu bemerken, wenn wir dann ungeduldig dreißig Minuten danebenstanden und von einem Fuß auf den anderen traten. Die Akten warteten! Versuchte man, ihm fachliche Fragen zu stellen, wich er eigentlich immer auf sein zweites Lieblingsthema Urlaubsreisen aus. Er fragte dann beispielsweise, ob man eine Ahnung habe, wo Antananarivo (die Hauptstadt von Madagaskar) liege. Wenn wir es nicht wussten, war Herr Berndt schon aufgestanden und bewegte sich Richtung Tür: »Ich hole mal den Atlas.« Hilfeschreie, abwehrende Gesten oder Ausreden halfen nichts. Es folgten eine geographische Einführung mit dem Atlas sowie ein bis zwei Urlaubsgeschichten.
    Wenn Jens das mitbekam, lachte er kräftig: »Da müsst ihr |64| noch dazulernen. Am besten nehmt ihr einfach die nächste Akte, fangt an zu lesen und reagiert nicht auf Herrn Berndt.« Das trauten wir uns dann aber doch nicht. Er war schließlich unser Chef.
     
    Im Laufe des Monats Februar konnte ich zwei umfangreiche Gürteltiere aus meinem Bauchwehstapel mit einer Anklage abschließen. Bei dem ersten Fall handelte es sich um den Tod eines Alkoholikers. Der schwerkranke ältere Mann, der nicht mehr klar denken und sich kaum artikulieren konnte, wurde in einem Heim untergebracht, da er keine Angehörigen hatte. Nach einem Monat verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zunehmend und man lieferte ihn im Krankenhaus auf der Intensivstation ein. Dort legte man ihm einen Urinkatheter. Der zuständige Oberarzt notierte auf den Krankenunterlagen fürs Heim eine entzündete Stelle von zwei Zentimetern Durchmesser im Intimbereich, die wohl durch das viele Liegen entstanden war.
    Sechs Monate später wurde der Mann von Mitarbeitern des Altenheims erneut in die Notaufnahme gebracht. Sein Zustand war lebensbedrohlich, und er verstarb nach zwei Tagen. Der Oberarzt stellte erzürnt fest, dass sich niemand um die entzündete Stelle gekümmert hatte. Sie hatte sich zu einer offenen, eitrigen, kreisrunden, stinkenden und von Maden befallenen Wunde entwickelt. Bei der Obduktion zeigte sich, dass die Wunde fast in die gesamte Bauchhöhle Eiter gestreut hatte. In einem Artikel für ein Wochenmagazin prangerte der Oberarzt die oft katastrophalen Zustände in Heimen an. Der enorme Kostendruck der Pflegeheime führe zur Einstellung von unqualifiziertem Personal und damit mangelhafter Pflege. Insbesondere Menschen ohne |65| Angehörige (die sich nicht beschweren und Druck machen können) würden häufig links liegengelassen.
    Der vorliegende Fall war jedoch besonders erbarmungslos. Niemand hatte es im Heim für nötig befunden, die entzündete Stelle medizinisch zu versorgen, obwohl das Pflegepersonal die Entzündung täglich mehrmals gesehen und gerochen haben musste. Immer dann, wenn sie den Urinkatheter wechselten. Sie sahen zu, wie der alte Mann an der Wunde langsam zugrunde ging. Erstaunlich war, dass zweimal im Monat eine Heimärztin zur Visite kam und den Gesundheitszustand als »in Ordnung« vermerkte. Im Übrigen hatte keiner der 15   Mitarbeiter der Station eine Pflegeausbildung absolviert. Es handelte sich durchweg um ungelernte Kräfte oder Zivildienstleistende.
    Ein gerichtsmedizinisches Gutachten belegte, dass der alte

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