Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
Nina R. Breit wälzte er es aus, dass sie mehrere Stunden in der Diskothek verbrachte, bevor sie zur Polizei ging. Schließlich kam er zu ihren »sexuellen Kontakten zu Männern«. Die Zeugin erklärte, dass es keine gegeben habe, schließlich sei sie noch Jungfrau gewesen. Der Verteidiger rief ihr aufbrausend zu, sie solle bloß nicht so scheinheilig tun. Sie wisse ganz genau, dass es auch andere Möglichkeiten wie Anal- oder Oralverkehr gebe. Nina R. entgegnete empört und mit vor Wut zitternder Stimme, dass er ein Schwein sei. Der Verteidiger grinste nur. Auf seine wiederholte Frage musste sie antworten und verneinte entsprechende Kontakte. Schließlich war er mit ihr fertig und sie konnte den Zeugenstand verlassen.
Damit war der erste Sitzungstag in diesem Prozess zu Ende. In der folgenden Woche sollten weitere Zeugen vernommen werden.
Während ich zu meinem Zimmer zurückging, ließ ich noch mal den Verhandlungstag Revue passieren. Hatte der Angeklagte sie nun vergewaltigt oder nicht? Der Knackpunkt war für mich, dass ich einfach keinen Grund erkennen konnte, warum Nina R. den Angeklagten fälschlicherweise einer so schweren Tat bezichtigen sollte. Natürlich gab es diese Fälle. Es war ein uraltes Problem. Von ihm wird schon in der Bibel (Buch Genesis, Kapitel 39) berichtet.
Josef kommt als Sklave nach Ägypten und wird an Potifar, einen Hofbeamten des Pharao, verkauft. Dieser lässt seinen ganzen Besitz in Josefs Hand und kümmert sich, wenn Josef |173| da ist, um nichts als nur um sein Essen. Josef ist schön von Gestalt und Aussehen. Nach einiger Zeit wirft die Frau des Herrn einen Blick auf Josef und sagt: »Lege dich zu mir!« Er weigert sich aber und spricht zu ihr: »Siehe, mein Herr kümmert sich, da er mich hat, um nichts, was im Hause ist, und alles, was er hat, das hat er unter meine Hände getan; er ist in diesem Hause nicht größer als ich, und er hat mir nichts vorenthalten außer dir, weil du seine Frau bist. Wie sollte ich denn nun ein solch großes Übel tun und gegen Gott sündigen?« Obwohl sie Tag für Tag auf Josef einredet, bei ihr zu schlafen und ihr zu Willen zu sein, hört er nicht auf sie. Eines Tages kommt er ins Haus, um seiner Arbeit nachzugehen, und niemand vom Gesinde ist anwesend. Da packt sie ihn an seinem Gewande und sagt: »Lege dich zu mir!« Er lässt sein Gewand »in ihrer Hand« und läuft hinaus. Da ruft sie nach ihrem Hausgesinde und sagt zu den Leuten: »Seht, er hat uns den hebräischen Mann hergebracht, dass der seinen Mutwillen mit uns treibe. Er kam zu mir herein und wollte sich zu mir legen; aber ich rief mit lauter Stimme. Und als er hörte, dass ich ein Geschrei machte und rief, da ließ er sein Kleid bei mir und floh hinaus.« Als ihr Mann nach Hause kommt, erzählt sie ihm dieselbe Geschichte: »Der hebräische Knecht, den du uns hergebracht hast, kam zu mir herein und wollte seinen Mutwillen mit mir treiben.« Als Potifar das hört, wie seine Frau ihm schildert: »So hat dein Knecht an mir getan!«, packt ihn der Zorn. Er lässt Josef ergreifen und ins Gefängnis bringen.
Die intimen Tatumstände, bei denen es meist keine unbeteiligten Zeugen gibt, machen eine unzutreffende schwerwiegende Verdächtigung relativ »einfach«. Auch das spätere |174| Durchstehen eines Prozesses und Inkaufnehmen einer Verurteilung des vermeintlichen Täters stellt für das fest entschlossene vermeintliche Opfer kein unüberwindbares Hindernis dar. Deshalb sind Vergewaltigungsprozesse auch so unglaublich kompliziert. Rache, Auseinandersetzungen in der Familie, Trennungskonflikte oder Streit um das Umgangsrecht mit gemeinsamen Kindern können das Motiv für eine Falschaussage bilden. Es gibt auch falsche Anzeigen, die quasi aus dem Nichts kommen und in keiner Weise ein Motiv erkennen lassen. Sie können das Ergebnis eines übersteigerten Geltungsbedürfnisses und einer massiven psychischen Störung sein. Diese Fälle sind besonders schwierig, vor allem, wenn die anzeigende Person sich ansonsten in ihrem Umgang mit anderen völlig normal verhält. Dann kann der Angeklagte zum Opfer werden. Bei einer Verurteilung stehen schwere wirtschaftliche Folgen und eine soziale Ausgrenzung (auch in der eigenen Familie) bevor.
Das menschliche Verhalten bei Falschverdächtigungen kann sehr komplex motiviert sein und eine Vielzahl von Beweggründen können eine Rolle spielen. Selbst in aussagepsychologischen Gutachten bereitet es Sachverständigen oft Schwierigkeiten, eine
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