Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
erzählen, dass er sichere Angaben machen kann, fließen doch immer persönliche Eindrücke von dem Angeklagten und den Zeugen ein, auch Mimik und Gestik spielen eine Rolle. Es bleibt dabei, dass man mit seiner Entscheidungsfindung hinsichtlich der Frage der Täterschaft letztlich allein steht.
Im Café Jura erzählte ich am nächsten Tag von dem Prozess und bekam viel aufmunternden Zuspruch. Jens meinte, dass er dieses Gequatsche von der Unschuldsvermutung manchmal auch nicht mehr hören könne. Nämlich dann, wenn er selbst von der Schuld überzeugt sei. Es sei eine »bittere Pille«, die der Staatsanwalt in dieser Situation schlucken müsse. Er könne eben nur die Strafe beantragen, aber nicht verurteilen. Gerlinde meinte, dass es nur darauf ankomme, sein Bestes zu geben und zu versuchen, den Angeklagten »dranzukriegen«, wenn man von seiner Schuld überzeugt sei. Ein Patentrezept gebe es (auch für Vergewaltigungsprozesse) nicht, da jeder Fall anders und so vielschichtig wie das Leben selbst sei. Vorwürfe müsse ich mir nicht machen, wenn ich alles unternommen hätte, was mir eingefallen sei.
Damit war das Thema in der Kaffeerunde durch und andere wurden erörtert. Mona hatte eine Ermittlungsakte mitgebracht: Jemand hatte den Verlust seiner E C-Karte und unberechtigte Abhebungen am Geldautomaten durch unbekannte Personen angezeigt. Die E C-Karte sei ihm bei |202| einem Kneipenbesuch entwendet worden. Der Geschädigte schwor Stein und Bein, dass er die Geheimzahl nur im Kopf und nirgendwo notiert habe. Außerdem habe er beim Eintippen der Geheimzahl immer schützend die linke Hand über die Tastatur gehalten. Der Vorraum der Bankfiliale, in der die Abhebungen erfolgten, wurde von einer Videokamera überwacht. Die Polizei hatte das Video angefordert. Als es schließlich kam, wurde deutlich, dass der Anzeigende bei dem Kneipenbesuch kräftig Alkohol getrunken haben musste. Auf den Bildern war zu erkennen, wie der vermeintlich Geschädigte, links und rechts eskortiert von jeweils einer unbekannten Person, denen er die Arme über die Schultern gelegt hatte, schwankend auf den Geldautomaten zustolperte. Offenbar hob der Geschädigte selbst fröhlich singend und im Einvernehmen mit seinen Begleitern einen größeren Betrag ab. Die Bilder machten den Eindruck, als ob zwei Seeleute einen Betrunkenen zur Reling brächten, damit er sich erleichtern konnte. Wir mussten alle lachen und mir ging es wieder ein bisschen besser. Ob es in dem Vergewaltigungsprozess eine Berufung gab und der Angeklagte vielleicht doch noch verurteilt wurde, habe ich nie erfahren.
|203|
Erika L.
I ch verlas die Anklage in dem Raubprozess gegen Sinan H., nachdem das Gericht die Personalien des Angeklagten erörtert hatte. Das Gericht hatte nun einige Zeit für eine mögliche Einlassung des Angeklagten freigehalten. Der Verteidiger teilte jedoch mit, dass »derzeit« keine erfolgen sollte. Nach einer kleinen Pause wurden daher schon die Geschädigten Erika und Werner L. als Zeugen vernommen.
Der Gerichtswachtmeister rief zunächst Erika L. herein. Sie nahm auf einem kleinen Stuhl Platz. Vor ihr befand sich ein Tisch für Unterlagen, nicht größer als ein kleiner Schminktisch. Links von ihr saßen auf Augenhöhe der Verteidiger und der Angeklagte. Vor ihr stand erhöht die große Richterkanzel und rechts genauso erhöht die Kanzel des Staatsanwalts. Um das Gericht anzusehen (es waren zwei Berufsrichter, eine Berufsrichterin und zwei Schöffinnen), musste sie den Kopf zwar nicht in den Nacken legen, aber schon erheblich nach oben recken. Im Zusammenspiel mit der riesigen Decke konnte dies doch ein wenig einschüchternd wirken. Der Saal hatte noch dieselbe Innenausstattung wie vor hundert Jahren und drückte aus, um wie viel höher als Angeklagte und auch Zeugen Richter und Staatsanwalt damals eingeschätzt wurden und dass das auch so empfunden werden sollte.
Nach den Angaben zu ihrer Person ließ das Gericht der |204| Zeugin ausreichend Zeit für ihre Ausführungen zu den Tatvorgängen, die mittlerweile schon viele Jahre zurücklagen. Man merkte, wie Erika L. aufblühte, als sie von dem kleinen Ladengeschäft erzählte. Es war beeindruckend, wie sie sich mit ihrem Mann gegen die Arbeitslosigkeit gewehrt hatte und es schaffte, sich in der »neuen Zeit« trotz aller Widrigkeiten eine kleine Existenz aufzubauen. Die Frau hatte einen starken Willen und Charakter, was sie mir sofort sympathisch machte. Und ich hatte nicht das Gefühl, dass sie
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