Auf dem Jakobsweg
floß, und hatte dort Fische gefangen, die er dann auf dem Feuer grillte. Anschließend streckten wir uns jeder in seinem Schlafsack aus. Diese erste Nacht auf dem Jakobsweg gehört zu den Dingen in meinem Leben, die ich nie wieder vergessen werde. Es war kalt, obwohl Sommer war. Ich hatte noch den Geschmack des Weins, den Petrus mitgebracht hatte, im Mund. Ich blickte in den Himmel und die Milchstraße, die den unendlichen Weg zeigte, den wir noch gehen mußten. Unter anderen Umständen hätte mir diese unendliche Weite Angst eingeflößt, und ich hätte gefürchtet, es nicht zu schaffen, dem nicht gewachsen zu sein. Doch heute war ich ein Samenkorn und war neugeboren. Ich hatte herausgefunden, daß trotz des Behagens in der Erde und des Schlafes, den ich dort schlief, das Leben >dort oben< viel schöner war. Ich konnte, sooft ich wollte, wiedergeboren werden, bis meine Arme so groß waren, daß sie die ganze Welt umarmen konnten.
Der Schöpfer und die Kreatur
Sechs Tage lang waren wir durch die Pyrenäen gewandert, die Berge hinauf- und hinabgestiegen. Jedesmal, wenn die letzten Sonnenstrahlen die höchsten Gipfel gerade noch beschienen, ließ mich Petrus das Exerzitium vom Samenkorn machen. Am dritten Tag zeigte uns ein Wegweiser aus Beton, daß wir uns auf spanischem Boden befanden. Petrus hatte nach und nach einiges aus seinem Privatleben preisgegeben. Ich fand heraus, daß er Italiener war und von Beruf Industriedesigner. Ich fragte ihn, ob all das, was er aufgegeben hätte, um einen Pilger zu führen, der auf der Suche nach einem Schwert war, ihn nicht in Gedanken weiter beschäftigte.
»Ich möchte, daß dir eines klar ist«, antwortete er. »Ich führe dich nicht zu deinem Schwert. Es zu finden ist ganz allein deine Sache. Ich bin hier, um dich auf dem Jakobsweg zu führen und dich die Praktiken der R.A.M. zu lehren. Wie du sie dann bei der Suche nach deinem Schwert anwendest, ist dir überlassen.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Eine Reise ist immer ein Akt der Wiedergeburt. Du wirst vor vollkommen neue Situationen gestellt, der Tag vergeht viel langsamer, und zumeist verstehst du die Sprache nicht, die die Menschen sprechen. Genau wie ein Kind, das aus dem Mutterleib kommt. Unter solchen Umständen mißt du dem, was dich umgibt, eine viel größere Bedeutung bei, da dein Überleben davon abhängt. Du bist Menschen gegenüber offener, weil sie dir vielleicht in schwierigen Lagen helfen können. Und du nimmst das kleinste Geschenk der Götter mit so großer Freude auf, als handele es sich um etwas, was man sein ganzes Leben lang nie wieder vergißt.
Zugleich wirst du, da alles neu ist, vor allem der Schönheit aller Dinge gewahr und bist glücklich darüber zu leben. Daher ist die Wallfahrt seit jeher eine der objektivsten Formen, um zur Erleuchtung zu gelangen. Um seine Sünden abzulegen, muß man immer weitergehen, sich neuen Situationen stellen und wird dafür die Tausenden von Segnungen empfangen, die das Leben dem großzügig gewährt, der sie von ihm erbittet. Glaubst du wirklich, daß ich mir wegen eines halben Dutzends von Projekten Sorgen mache, die ich nicht umgesetzt habe, weil ich jetzt hier mit dir zusammen bin?«
Petrus sah um sich, und ich folgte seinen Blicken. Eine Ziegenherde zog über den Abhang eines Berges. Eine Ziege, die waghalsigste, stand auf einem hohen Felsvorsprung. Ich fragte mich, wie sie dort hingekommen war und wie sie von dort wieder weggelangen könnte. Doch noch als ich mir diese Frage stellte, sprang die Ziege, für mich unsichtbare Punkte zu Hilfe nehmend, zu ihren Gefährten zurück. Alles ringsum strahlte eine kraftvolle Ruhe aus, den Frieden einer Welt, die noch viel wachsen und erfinden konnte und wußte, daß es voranzuschreiten galt, immer voranzuschreiten. Auch wenn ein heftiges Erdbeben oder ein mörderischer Sturm manchmal in mir das Gefühl erweckten, die Natur sei grausam, so habe ich doch begriffen, daß sie nur Wechselfälle des Weges sind. Auch die Natur befindet sich auf einer Reise, auf der Suc he nach der Erleuchtung.
»Ich bin sehr glücklich, hier zu sein«, sagte Petrus. »Denn die Arbeit, die ich nicht gemacht habe, zählt nicht, und die Arbeiten, die ich anschließend machen werde, werden um so besser gelingen.«
Nachdem ich das Werk von Carlos Castaneda gelesen hatte, wünschte ich mir, einmal dem alten indianischen Medizinmann Don Juan zu begegnen. Als ich Petrus sah, wie er die Berge betrachtete, hatte ich das Gefühl, mit jemandem
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