Auf dem Jakobsweg
wächst. Aber die Entscheidung liegt bei dir.«
Der letzte Satz war so freundlich gesagt, daß er mich etwas beruhigte. Wenn es an mir war, zu entscheiden, was ich tun sollte, dann wollte ich das Beste aus dieser Situation machen. Ich ließ in mir einen seltsamen Zustand entstehen, als wäre die Zeit etwas ganz Fernes, das mich nicht interessierte. Ich wurde immer ruhiger und begann die mich umgebenden Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Meine Phantasie, die aufbegehrte, als ich angespannt war, arbeitete nun für mich. Ich schaute auf die kleine Stadt vor mir und begann eine Geschichte zu ihr zu erfinden: Ich stellte mir vor, wie sie gebaut worden war, ich malte mir die Pilger aus, die durch sie gezogen waren, die Freude, nach dem kalten Wind der Pyrenäen auf Menschen zu treffen und eine Unterkunft zu finden. Irgendwann vermeinte ich in der Stadt eine starke, geheimnisvolle und weise Gegenwart zu sehen. Meine Phantasie füllte die Ebene mit Rittern und Schlachten. Ich konnte ihre Schwerter in der Sonne blitzen sehen und ihr Kriegsgeschrei hören. Die kleine Stadt war nun nicht mehr der Ort, der meine Seele mit Wem und meinen Körper mit einer Decke wärmen sollte: Er war ein historischer Markstein, ein Werk heldenhafter Menschen, die alles aufgegeben hatten, um sich in dieser Einöde niederzulassen. Dort lag die Welt und umgab mich, und ich begriff, daß ich nur selten auf sie geachtet hatte.
Ehe ich mich versah, standen wir vor der Tür der Taverne, und Petrus forderte mich auf einzutreten. »Der Wein geht auf mich«, sagte er. »Wir werden früh schlafen gehen, denn morgen stelle ich dich einem großen Hexer vor.«
Ich schlief tief und traumlos. Kaum hatte der Tag begonnen, sich über die beiden einzigen Straßen des Städtchens Roncesvalles auszubreiten, da klopfte Petrus an meine Zimmertür. Wir waren im oberen Stockwerk der Taverne untergebracht, die auch als Hotel diente.
Wir tranken Kaffee, aßen Brot mit Olivenöl und brachen dann auf. Ein dichter Nebel hing über dem Ort. Ich begriff, daß Roncesvalles genaugenommen gar keine kleine Stadt war, wie ich geglaubt hatte. Zur Zeit der großen Wallfahrten auf dem Jakobsweg war sie das mächtigste Kloster der ganzen Region, dessen direkter Einfluß sich bis über die Grenzen von Navarra erstreckte. Und es hatte sich nicht verändert: Seine wenigen Gebäude gehörten zu einer Stiftskirche. Das einzige weltliche Gebäude war die Taverne, in der wir abgestiegen waren. Wir gingen durch den Nebel und traten in die Stiftskirche. Drinnen zelebrierten, in weiße Paramente gekleidet, einige Patres die erste Morgenmesse. Ich verstand kein Wort. Die Messe wurde offenbar auf baskisch gelesen. Petrus setzte sich ganz hinten auf eine Bank und bat mich, neben ihm Platz zu nehmen.
Die Kirche war riesengroß, voller Kunstgegenstände von unschätzbarem Wert. Petrus erklärte mir leise, daß sie mit Schenkungen von Königen und Königinnen von Portugal, Spanien, Frankreich und Deutschland an einer Stelle gebaut worden sei, die Kaiser Karl der Große dazu bestimmt hatte. Die heilige Jungfrau von Roncesvalles auf dem Hochaltar, die ganz aus Silber geformt und deren Gesicht aus edlem Holz geschnitzt war, hielt einen Blumenstrauß aus Edelsteinen in der Hand. Der Weihrauchduft, das gotische Kirchenschiff und die weißgekleideten Patres und ihre Gesänge begannen mich in eine Art Trance zu versetzen, die ich schon während der Rituale der >Tradition< erlebt hatte.
»Und der Hexer?« fragte ich, als mir wieder einfiel, was Petrus am Abend zuvor gesagt hatte.
Petrus wies mit einer Kopfbewegung auf einen hageren Pater mittleren Alters, der eine Brille trug und mit den anderen Mönchen auf den langen Bänken rechts und links des Hochaltars saß. Ein Hexer, der gleichzeitig Pater war! Am liebsten wäre mir gewesen, die Messe wäre sofort zu Ende gegangen, doch wie Petrus mir am Vortage gesagt hatte, sind wir es, die den Rhythmus der Zeit bestimmen: Meine Ungeduld führte dazu, daß die kirchliche Zeremonie mehr als eine Stunde dauerte.
Als die Messe geendet hatte, ließ mich Petrus allein auf der Bank zurück und verschwand in der Tür, durch die die Patres hinausgegangen waren. Ich sah mir eine Weile die Kirche an, fühlte, daß ich irgendein Gebet hätte sprechen müssen, doch ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Die Bilder schienen fern, an eine Vergangenheit geheftet, die niemals wiederkehren würde, so wie auch das goldene Zeitalter des Jakobsweges nie wiederkehren
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