Auf dem Jakobsweg
Meine Frau wird mich vergessen, wird einen anderen heiraten und das Geld ausgeben, das wir all diese Jahre zusammengespart haben! Doch was bedeutete das jetzt noch? Ich will jetzt bei ihr sein, denn ich lebe!
Ich höre Weinen, fühle aus meinen Augen Tränen rinnen. Wenn sie jetzt den Sarg öffnen, sähen sie mich und würden mich retten. Doch ich spüre nur, daß der Sarg in die Grube heruntergelassen wird. Plötzlich ist alles dunkel. Vorher war noch ein Lichtschein durch eine Ritze gedrungen, doch nun herrscht vollkommene Dunkelheit. Die Schaufeln der Totengräber klopfen die Erde fest, und ich lebe! Bin lebendig begraben! Ic h spüre, wie die Luft drückend wird, der Blumenduft wird unerträglich, und ich höre, wie sich die Schritte der Leute entfernen. Der Schrecken ist allumfassend. Ich kann mich nicht bewegen, und wenn sie jetzt gehen, wird es bald Nacht sein, und niemand wird mich im Grab klopfen hören!
Die Schritte entfernen sich, niemand hört die Schreie, die ich in Gedanken ausstoße, ich bin allein, und die Finsternis, die stickige Luft, der Blumenduft machen mich verrückt. Plötzlich höre ich ein Geräusch. Es sind die Würmer, die Würmer, die immer näher kommen, um mich lebendig zu verschlingen. Ich versuche mit aller Kraft irgendeinen Teil meines Körpers zu bewegen, doch er bleibt reglos. Die Würmer beginnen an mir hochzukriechen. Sie sind ölig und kalt. Sie krabbeln über mein Gesicht, kriechen in meine Hose. Einer dringt in meinen Anus, ein anderer beginnt sich in eines meiner Nasenlöcher zu stehlen. Hilfe! Ich werde bei lebendigem Leibe verschlungen, und niemand hört mich, niemand sagt etwas zu mir. Der Wurm, der in meine Nase gekrochen war, windet sich nun meinen Rachen hinunter. Ich fühle, wie ein weiterer in mein Ohr hineinkriecht. Ich muß hier raus! Wo ist Gott, warum antwortet er nicht? Sie beginnen meine Kehle zu verschlingen, und ich werde nun nie wieder schreien können! Sie kommen überall herein, durch die Ohren, durch die Mundwinkel, durch sämtliche Körperöffnungen. Ich spüre diese schleimigen, öligen Dinger in mir, ich muß schreien, ich muß mich befreien! Ich bin in dieses finstere, kalte Grab gesperrt, bin allein, werde bei lebendigem Leibe verschlungen! Es gibt kaum noch Luft, und die Würmer fressen mich auf! Ich muß mich bewegen. Ich muß diesen Sarg aufbrechen. Mein Gott, nimm alle meine Kräfte zusammen, denn ich muß mich bewegen! Ich muß hier raus, ich muß... ich werde mich bewegen! Ich werde mich bewegen!
Ich habe es geschafft!
Die Bretter des Sarges flogen in alle Richtungen, das Grab verschwand, und ich atmete die reine Luft des Jakobsweges ein. Ich zitterte von Kopf bis Fuß, war schweißüberströmt. Doch das war unwichtig: Ich lebte.
Das Zittern hörte nicht auf, doch ich tat nichts, um es unter Kontrolle zu bringen. Das Gefühl einer unendlichen Ruhe überkam mich, und ich spürte, daß jemand neben mir stand. Ich schaute und sah das Gesicht meines Todes. Es war nicht der Tod, den ich Minuten zuvor erlebt hatte, ein Tod, der vom Schrecken in meiner Phantasie geschaffen war, sondern mein wahrer Tod, mein Freund und Ratgeber, der nie wieder zulassen würde, daß ich auch nur an einem einzigen Tag meines Lebens feige war. Von nun an würde er mir mehr als Petrus' Hand und Ratschlag helfen. Er würde nicht zulassen, daß ich auf morgen verschob, was ich heute leben konnte. Er würde mich nie wieder vor den Kämpfen im Leben fliehen lassen und mir helfen, den guten Kampf zu kämpfen. Nie wieder, zu keinem Zeitpunkt würde ich mich lächerlich fühlen, wenn ich etwas tat. Weil er dort war und mir sagte, daß ich, wenn er einmal meine Hände ergreifen würde, um mit mir in andere Welten zu reisen, dann die größte aller Sünden nicht mitnehmen dürfe: die Reue. Seine Anwesenheit und sein freundliches Antlitz gaben mir die Gewißheit, daß ich nunmehr gierig vom Quell des Lebens trinken würde.
Die Nacht barg nun weder Geheimnisse noch Schrecken. Es war eine glückliche Nacht, eine friedliche Nacht. Als das Zittern vorüber war, erhob ich mich und ging zu den Wasserpumpen der Landarbeiter. Ich wusch die Bermudas aus und zog ein Paar andere an, die ich noch im Rucksack hatte. Dann kehrte ich zum Baum zurück und aß die zwei Butterbrote, die Petrus mir zurückgelassen hatte. Nie hatte ich etwas Köstlicheres gegessen, denn ich lebte, und der Tod schreckte mich nicht mehr.
Ich beschloß, daselbst zu schlafen. Schließlich hatte es nie eine ruhigere
Weitere Kostenlose Bücher