Auf dem Jakobsweg
daß ich durch das jahrelange Training der Magie praktisch jegliche Angst verloren hätte. Ich fürchtete mich in Wahrheit mehr vor der Art, wie ich sterben würde, als vor dem Tod an sich.
»Nun, dann wirst du heute die schlimmste Todesart erleben.« Und Petrus lehrte mich das Exerzitium des Lebendig-begrabenWerdens.
DAS EXERZITIUM DES LEBENDIG-BEGRABEN-WERDENS Lege dich auf den Boden und entspanne dich. Falte deine Hände auf der Brust und liege da wie eine Leiche.
Stelle dir deine Beerdigung in allen Einzelheiten vor, als würde sie morgen stattfinden. Der Unterschied ist jedoch, daß du lebendig begraben werden wirst. Während sich alles abspielt die Andacht in der Kapelle, der Weg zum Grab, das Herablassen des Sarges, die Würmer in der Grube -, spanne deine Muskeln im Versuch, sie zu bewegen, immer stärker an. Spanne deine Muskeln, so stark es irgend geht, an. Widerstehe dem Wunsch, dich zu bewegen. Bis zu dem Augenblick, in dem du es nicht mehr aushältst. Dann sprenge die Bretter des Sarges mit einer einzigen Bewegung, atme tief ein. Jetzt bist du frei.
Diese Bewegung hat noch mehr Wirkung, wenn sie von einem aus den Tiefen deines Körpers herrührenden Schrei begleitet wird.
»Du darfst es nur einmal durchführen«, sagte er, und mir fiel spontan eine ähnliche Schauspielübung ein. »Du mußt die ganze Wahrheit, die ganze Angst erwecken, damit das Exerzitium an den Wurzeln deiner Seele rüttelt und deinem Tod die Schreckensmaske abreißt, die sein freundliches Antlitz verdeckt.«
Petrus stand auf, und seine Gestalt hob sich scharf gegen den im Abendlicht lodernden Himmel ab. Da ich sitzen geblieben war, wirkte er überwältigend, wie ein Riese.
»Eine Frage habe ich noch, Petrus.«
»Und die wäre?«
»Heute morgen warst du schweigsam und merkwürdig. Hast du noch vor mir geahnt, daß der Hund kommen würde?« »Als wir gemeinsam die alles verschlingende Liebe erlebten, teilten wir die Erfahrung des Absoluten. Das Absolute zeigt allen Menschen, wer sie wirklich sind, ein unendliches Netz aus Ursache und Wirkung, wobei jede kleinste Geste des einen sich im Leben des anderen widerspiegelt. Heute morgen war dieser Teil des Absoluten noch sehr lebendig in meiner Seele. Ich hatte nicht nur dein Ich, sondern alles gesehen, was es auf der Welt gibt, ohne Grenzen von Zeit und Raum. Jetzt hat sich die Wirkung etwas gelegt und wird nur beim nächsten Mal, wenn wir die Übung der alles verzehrenden Liebe machen werden, wieder aufleben.«
Ich erinnerte mich an Petrus' schlechte Laune an diesem Morgen. Wenn das, was er sagte, stimmte, dann mußte die Welt einen schwierigen Augenblick durchmachen.
»Ich werde im Parador auf dich warten«, sagte er im Weggehen. »Ich werde deinen Namen am Empfang hinterlassen.«
Ich folgte ihm mit meinem Blick, solange ich konnte. Auf den Feldern zu meiner Linken hatten die Bauern ihre Arbeit beendet und gingen nach Hause. Ich beschloß das Exerzitium zu machen, sobald es ganz dunkel war.
Ich war ruhig. Dies war das erste Mal seit dem Beginn meiner Wanderung auf dem Jakobsweg, daß ich vollkommen allein war. Ich erhob mich und erkundete die Umgebung. Doch die Nacht fiel schnell herein, und ich beschloß zum Baum zurückzukehren, weil ich fürchtete, mich zu verirren. Da es kein Licht gab, das mich hätte blenden können, wäre es durchaus möglich gewesen, im Licht der Sichel des zunehmenden Mondes den Pfad zu sehen und nach Santo Domingo de la Calzada zu gelangen.
Bis zu diesem Augenblick hatte ich keinerlei Angst und glaubte, es würde sehr viel Phantasie notwendig sein, um in mir die Furcht vor einem gräßlichen Tod zu wecken. Doch so alt man auch war: Wenn die Nacht hereinbrach, brachte sie stets die seit unserer Kindheit in der Seele verborgenen Ängste mit sich. Je dunkler es wurde, desto unbehaglicher fühlte ich mich. Ich befand mich ganz allein auf dem Feld, und wenn ich schreien würde, gab es niemanden, der mich hörte. Mir fiel ein, daß ich am Morgen durchaus einen Kreislaufkollaps hätte haben können. Niemals zuvor in meinem Leben war mein Herz so außer Kontrolle geraten.
Und wenn ich nun gestorben wäre? Das Leben wäre zu Ende gewesen, das war die logische Folgerung. Auf meinem Weg der >Tradition< hatte ich schon mit vielen Geistern gesprochen. Ich war nur vollkommen sicher, daß es ein Leben nach dem Tode gab, doch ich war nie darauf gekommen zu fragen, wie sich der Übergang vom Leben zum Tode vollzog. Von einer Dimension in die andere überzugehen mußte
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