Auf dem Jakobsweg
damit man es versteht.« Dann folgte Stille. Ich dachte schon, Petrus hätte es sich anders überlegt und sei bereits jetzt gegangen. Am liebsten hätte ich die Augen geöffnet, um mich zu vergewissern, doch ich bezwang mich und konzentrierte mich auf die Atemübung. »Das Geheimnis ist folgendes«, sagte Petrus' Stimme endlich. »Du kannst nur lernen, indem du lehrst. Gemeinsam sind wir den Jakobsweg gegangen, doch während du die Praktiken lerntest, lernte ich erst deren Bedeutung kennen. Indem ich dich lehrte, lernte ich die Wahrheit. Indem ich die Rolle des Führers annahm, fand ich meinen eigenen Weg.
Wenn es dir gelingt, dein Schwert zu finden, mußt du jemand anderen auf dem Jakobsweg führen. Erst wenn du die Rolle des Meisters akzeptierst, wirst du alle Antworten in deinem Herzen finden. Wir wissen bereits alles, bevor jemand uns davon erzählt. Das Leben lehrt uns mit jedem Augenblick etwas, und das einzige Geheimnis liegt darin, zu akzeptieren, daß wir durch unseren Alltag ebenso weise werden können wie Salomo und ebenso mächtig wie Alexander der Große. Doch zu dieser Erkenntnis gelangen wir erst, wenn wir gezwungen sind, jemanden etwas zu lehren und an so außergewöhnlichen Abenteuern wie diesem hier teilzunehmen.«
Und nun kam der ungewöhnlichste Abschied, den ich je erlebt habe. Jemand, mit dem ich eine so intensive Beziehung gehabt und von dem ich erhofft hatte, daß er mich zu meinem Ziel führen würde, ließ mich auf halbem Weg stehen, noch dazu mitten auf einem stinkenden Rangierbahnhof. Und mir blieb nichts anderes übrig, als es mit geschlossenen Augen hinzunehmen.
»Ich mag keine Abschiedsszenen«, fuhr Petrus fort. »Wir Italiener sind sehr emotional, uns geht so etwas immer an die Nieren. Es ist nun einmal so: Du mußt dein Schwert allein finden, damit du an deine Macht glauben kannst, Alles, was ich dir vermitteln konnte, habe ich dir vermittelt. Es bleibt nur noch das Exerzitium des Tanzes, das ich dir jetzt beibringen werde, weil du es morgen während des Rituals brauchst.«
Er schwieg. Viel später durfte ich endlich die Augen öffnen. Petrus saß auf einer der Wagenkupplungen der Lokomotive. Ich mochte nichts sagen, denn der Brasilianer ist auch eher emotional. Die Neonlampe über uns begann zu flackern, und in der Ferne kündigte ein Zug pfeifend seine Ankunft an. Da lehrte mich Petrus das Exerzitium des Tanzes.
»Eines noch«, sagte er und blickte mir dabei tief in die Augen. »Als ich damals meine Pilgerwanderung beendet hatte, malte ich ein schönes, überdimensionales Bild, auf dem ich alles darstellte, was ich bis dahin erlebt hatte. Das ist der Weg der gewöhnlichen Menschen, und du kannst das gleiche tun, wenn du willst. Wenn du nicht malen kannst, schreib etwas, denk dir ein Ballett aus. So können durch deine Vermittlung auch andere Menschen die Rota Jacobea gehen, egal wo sie sich befinden.« Der Zug, der gepfiffen hatte, fuhr in den Bahnhof ein. Petrus winkte mir und verschwand zwischen den Waggons. Und ich stand da, während unweit von mir der Zug mit kreischenden Bremsen zum Stillstand kam, und versuchte, die geheimnisvolle Milchstraße mit ihren Sternen über mir zu entziffern, die mich bis hierher geführt hatte und die in aller Stille die Einsamkeit und das Schicksal aller Menschen lenkte.
Am nächsten Tag lag eine Nachricht in meinem Schlüsselfach: 7.00 UHR P.M. CASTILLO DE LOS TEMPLARIOS.
Ich verbrachte den Tag damit, kreuz und quer durch das kleine Ponferrada zu streifen, immer die Burg auf dem kleinen Hügel vor Augen, wo ich mich bei Sonnenuntergang einfinden sollte. Die Templer haben meine Phantasie seit jeher angeregt, und die Burg in Ponferrada war nicht die einzige Spur, die der Templerorden auf der Rota Jacobea hinterlassen hatte. Der Orden war von neun Rittern gegründet worden, die beschlossen hatten, nicht mehr an Kreuzzügen teilzunehmen. Sie hatten sich bald über ganz Europa
DAS EXERZITIUM DES TANZES
Entspanne dich und schließe die Augen. Erinnere dich an die ersten Melodien, die du in deinem Lehen gehört hast. Summe sie innerlich vor dich hin. Ganz allmählich läßt du einen Teil deines Körpers - Füße, Bauch, Hände, Kopf usw. -, doch nur einen Teil, die Melodie tanzen, die du gerade singst. Nach fünf Minuten kannst du mit Singen aufhören. Lausche auf die Geräusche, die dich umgehen. Komponiere aus ihnen eine Musik und tanze sie mit deinem ganzen Körper. Vermeide es, an irgend etwas zu denken, sondern versuche, dich an die Bilder zu
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