Auf dem Jakobsweg
wo ich notfalls übernachten konnte, wenn der Jakobsweg es so vorsah. Obwohl Petrus gegangen war, war ich doch nicht führerlos: Der Weg »ging mich«.
Ein verirrtes Lamm kam den Berg herauf und stellte sich zwischen mich und das Kreuz. Es sah mich etwas erschreckt an. Lange blickte ich zum dunklen Himmel empor, zum Kreuz und dem weißen Lamm zu seinen Füßen. Auf einmal spürte ich, wie müde ich von den ganzen Prüfungen, den Kämpfen, Lektionen und den Märschen war. Ein fürchterlicher Schmerz durchfuhr meinen Magen, kroch in die Kehle hinauf und machte sich in einem trockenen, tränenlosen Schluchzen Luft - vor diesem Kreuz, das ich nicht aufrichten mußte, weil es einsam und hoheitsvoll vor mir stand und dem Wetter trotzte. Es versinnbildlichte das Schicksal, das der Mensch nicht seinem Gott, sondern sich selbst auferlegt.
»Herr«, konnte ich endlich beten. »Ich bin nicht an dieses Kreuz geschlagen, und auch Dich sehe ich dort nicht. Das Kreuz ist leer und soll es für immer bleiben, weil die Zeit des Todes vorüber ist und jetzt in mir ein Gott aufersteht. Dieses Kreuz war das Symbol für die unendliche Macht, die wir alle besitzen, die wir aber ans Kreuz geschlagen und getötet haben. Jetzt wird diese Macht wiedergeboren, die Welt ist gerettet, und ich bin fähig, ihre Wunder zu vollbringen. Denn ich bin den Weg der gewöhnlichen Leute gegangen, in ihnen habe ich Dein Geheimnis entdeckt.
Auch Du bist den Weg der gewöhnlichen Menschen gegangen. Du hast uns gezeigt, wozu wir fähig sein konnten, wenn wir nur wollten, aber wir wollten nicht. Du hast uns gezeigt, daß die Macht und die Glorie für uns alle erreichbar ist, doch diese unvermittelte Vision unserer eigenen Möglichkeiten war zuviel für uns. Wir haben Dich nicht gekreuzigt, weil wir dem Sohn Gottes undankbar waren, sondern weil wir uns davor fürchteten, unsere eigenen Fähigkeiten anzuwenden. Wir haben Dich gekreuzigt, weil wir Angst hatten, zu Göttern zu werden. Mit der Zeit und mit der Überlieferung wurdest Du wieder zu einer fernen Gottheit, und wir kehrten zu unserem Schicksal als Menschen zurück. Es ist keine Sünde, glücklich zu sein. Ein halbes Dutzend Exerzitien und ein offenes Ohr reichen, damit es einem Menschen gelingt, seine unmöglichsten Träume zu verwirklichen. Weil ich stolz auf meine Kenntnisse war, hast Du mich den Weg gehen lassen, den alle gehen können, und mich entdecken lassen, was alle wissen könnten, wenn sie dem Leben mehr Beachtung schenken würden. Du hast mich sehen lassen, daß die Suche nach Glück eine ganz persönliche Suche ist und es kein Rezept gibt, das wir an andere weitergeben könnten. Bevor ich mein Schwert finde, mußte ich sein Geheimnis entdecken. Und es war so einfach, es geht nur darum zu wissen, was man mit ihm tun will. Mit ihm und dem Glück, das es für mich bedeuten wird.
Ich bin viele Kilometer gewandert, um Dinge herauszufinden, die ich bereits wußte, die wir alle wissen, aber die so schwer anzunehmen sind. Gibt es etwas Schwierigeres für den Menschen, Herr, als herauszufinden, daß er die Macht erreichen kann? Diesen Schmerz, den ich jetzt in meiner Brust fühle und der mich schluchzen läßt und das Lamm erschreckt, gibt es, seit es Menschen gibt. Nur wenige nehmen die Last des eigenen Sieges auf sich: Die meisten geben ihre Träume auf, wenn sie sich als erfüllbar erweisen. Sie weigern sich, den guten Kampf zu kämpfen, weil sie nicht wissen, was sie mit dem eigenen Glück anfangen sollen. So wie ich mein Schwert finden wollte, ohne zu wissen, was ich damit anfangen wollte.« Ein Gott erwachte in mir, und der Schmerz wurde immer stärker. Ich spürte, daß mein Meister in der Nähe war, und endlich konnte ich auch weinen. Ich weinte aus Dankbarkeit dafür, daß mein Meister mich auf den Jakobsweg geschickt hatte, um mein Schwert zu suchen. Ich weinte aus Dankbarkeit gegenüber Petrus, weil er mich gelehrt hatte, daß sich meine Träume erfüllen ließen, wenn ich erst einmal herausgefunden hatte, was ich damit anfangen wollte. Ich sah das leere Kreuz und das Lamm zu seinen Füßen.
Das Lamm erhob sich, und ich folgte ihm. Es wußte, wohin es mich bringen sollte, denn die Welt war trotz der Wolken für mich durchsichtig geworden. Auch wenn ich die Milchstraße am Himmel nicht sehen konnte, so war ich doch sicher, daß es sie gab und sie allen den Jakobsweg zeigte. Ich folgte dem Lamm, das auf den kleinen Ort zuging, der Cebreiro heißt wie der Berg. Dort war irgendwann ein Wunder
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