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Auf dem Maniototo - Roman

Auf dem Maniototo - Roman

Titel: Auf dem Maniototo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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hatten. Die weit entfernte Sonne hätte aus Papier oder Blech ausgeschnitten oder der schattenhafte, blutleere Mond sein können, der sie in ihrer Abwesenheit vertrat; sie war zu den Antipoden gezogen, um sich zu amüsieren und Licht und Wärme abzustrahlen. Dort oben im Norden musste ich oft an unsere Übersiedlung von der Farm in Canterbury in die Großstadt denken. Das Grau der Straßen, das in Wellington wirkt, als hätte es sich als Farbstoff der Großstadtverzweiflung entwickelt, wurde in Lancashire zur Farbe der durch den Winter verursachten schmerzlichen Trauer: Die Gesichter der Menschenschienen aus Gram über den Verlust der Sonne eingefallen zu sein, waren erfüllt von jener Hoffnungslosigkeit, die auf die alljährliche Ermordung von Licht, Farbe und Wärme folgt. Das königliche Tyrannenmahl, einst die goldene Wärme der Sonne, wurde nun Tag für Tag auf einem Winterteller aus Eis serviert.
    Aber was hat es für einen Sinn, mehr zu erzählen? Hier bin ich, in Berkeley, zusammen mit Roger. Kathy und Hugo, unsere beiden Kinder, sind bei ihren Großeltern in London. Zeitweise unterrichte ich Geographie. Eines Tages werde ich vielleicht ein Buch schreiben und meine
ganze
Lebensgeschichte erzählen.»
    Ich habe mir erlaubt, Doris’ Geschichte zu bearbeiten und in manchen Punkten auszuschmücken; vielleicht habe ich das getan, um den Ärger darüber wettzumachen, dass mein Blick auf die Familie Brunnenkresse plötzlich versperrt war, verstellt durch die vier Gäste, die mich zwangen, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn sie mir so die Schwelle zur Literatur blockieren, dachte ich, dann werde ich sie auch dementsprechend behandeln. Aber nun war Roger an der Reihe zu erzählen:
    «Ich bin ein Träumer», sagte Roger. «Und ich träume davon, ein Träumer zu werden. Als Einzelkind, Sohn eines anglikanischen Geistlichen und einer Musiklehrerin, wuchs ich mit Musik und guten Werken auf und rebellierte einige Zeit gegen beides, indem ich mich weigerte, in die Kirche zu gehen und weiter Musikstunden zu nehmen. Dies betrübte meinen Vater, schien aber meine Mutter nicht zu stören, die sich damit abfand, dass es mir an Interesse und Talent mangelte,und sich auf die fünf anderen Schüler konzentrierte, die zwischen vier und fünf Uhr nachmittags zum Unterricht in unser Haus kamen, mit ihren glänzenden Instrumentenkoffern und den zerrissenen Notenblättern, die meine Mutter, wie Musikschecks, mit ihrer dünnen Bleistiftschrift abgezeichnet hatte: Leise, Getragen, Mit mehr Gefühl, Hör zu, wenn du spielst, Denk an die Pausen, Deine Phrasierung!
    Der Stimmbruch war für mich ein Vorwand, der Rolle des widerwilligen Chorknaben von St. Matthew zu entkommen. Einen Großteil des Teenageralters verbrachte ich damit, Kricket zu spielen, das so lange eine Religion für mich war, bis ich mich mit siebzehn für Religion zu interessieren begann, nachdem ich gelesen hatte, dass viele Jugendliche die Erfahrung einer religiösen Bekehrung machen. Mein Leben scheint sich tatsächlich aus einer Reihe von Anregungen durch gelesene Sätze und die Erlebnisse anderer entwickelt zu haben, und ich hege den Verdacht, dass mein eigenes Wesen leer ist wie die Puppe eines Bauchredners. Ich las, wie sich ein ‹normaler› Junge meines Alters verhielt, und begann, mich genauso zu verhalten, und es waren auch Bücher, die mir die Sexualität erklärten und mich zum Experimentieren bewogen. In gewisser Weise bin ich immer ein Schattenmensch gewesen, der sich nach der vorgegebenen Wirklichkeit verhält: ein Mann ohne Geheimnisse. Da ich diese Pubertätsbekehrung unbedingt erleben wollte, war ich in diesen frühen Jahren ständig auf der Suche nach der ‹Erleuchtung› und stellte mir vor, dass die Leute, mit denen ich auf der Straße sprach, Engel wären, die nur ich allein erkannte, und wusste doch, dass es nur Einbildung war; denn hätte ich es nicht auf der Stelle wissen müssen, so wie all die anderen, die Erfahrung mit Engelnhatten, all die Glücklichen – Bauern, Hirten, arme Kupferstecher, Schmiedegehilfen, Fischer, Zimmerleute, Menschen, die traditionellerweise Zugang zum Göttlichen hatten und gleichzeitig oft die traditionellen Komiker waren, Figuren wie Flaut, Schnauz, Zettel und Squenz, die mit Holz, Tuch und geflickten Blasebälgen arbeiteten; die Handwerker, die heute Autoschlosser, Mechaniker, Fischverarbeiter, Installateure und Bankangestellte wären? Ich, der ich nicht so privilegiert war, hatte nur meine Einbildungskraft. Als

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