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Auf dem Maniototo - Roman

Auf dem Maniototo - Roman

Titel: Auf dem Maniototo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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nach Wellington. (Icherinnere mich, dass ich sehr früh aufstehen musste und jemand zu mir sagte, schnell, schau dir die Köpfe an, und ich sah alle an, die an Deck waren, und sämtliche Köpfe drehten sich in die eine, dann in die andere Richtung, und alle sagten voll Verwunderung: «Schaut nur, schaut euch die Köpfe an!») Sogar Tante Hildas Lattenzaun war in dieser Eisenbahnfarbe gestrichen. Ich fand heraus, dass es eine öffentliche Farbe war und dass man immer, wenn sie einen umgab, nicht wirklich zu Hause war, dass man auf irgendjemanden oder irgendetwas wartete – einen Verwandten oder einen Zug oder einen Bus –, oder dass man in einem Haus wohnte, das einem nicht gehörte, das nur gemietet war. Man befand sich auf der Durchreise, in einer Welt, die dieselbe Farbe hatte wie Weinkekse oder ovale Pfeilwurzkekse, wie man sie Leuten mit empfindlichem Verdauungsapparat zu essen gibt.
    Draußen auf dem Land hatten wir nie zu wenig zu essen gehabt; bei Tante Hilda und Onkel Selwyn und dort, wo wir nachher wohnten, hatten wir zwar weniger, aber doch genug. Mutter war immer zu Hause und kümmerte sich um uns und die Kostgänger, während Vater tage- und nächtelang weg war und Sachen zu verkaufen versuchte, und wenn er nach Hause kam, war er jedes Mal betrunken, und von seinem Lohn war nicht mehr viel übrig. Noeline und ich versteckten uns immer in unserem kleinen Schlafzimmer im Obergeschoss und hielten uns die Ohren zu, damit wir sein Geschrei und Mutters Weinen nicht hörten, wenn er sie schlug.
    Ich sage dir, mit der Zeit wurde ich verschlagen, unter meiner Milchmädchenmaske. Der Wechsel von der Farm in die Großstadt war schlimmer als jeder andere, den ich seither erlebt habe. Auch der Wechsel der Farben, vom Grün, dem Braun der Dürre und dem Braun des Grases zum öden Graubraunund zum Dunkelgrün der Büsche auf den Hügeln von Wellington, einem Hassgrün, einem Grün der Trauer. Dennoch gab es Ablenkung für uns Kinder – in Wellington wehte oft der Wind, trieb seine Possen mit jedem auf der Straße, auch mit der Wäsche auf den Wäscheleinen und dem Rauch aus den Schornsteinen, zerriss ganze Formen und Schatten, stellte alles, was nicht fest verankert war, an seinen richtigen oder falschen Platz; nur große Steine und Berge blieben unbewegt stehen. Der Wind blies durch Menschen hindurch und kam auf der anderen Seite wieder heraus; Fetzchen von ihnen und ihren Gedanken flatterten wie Bänder in seinem Sog, und Samen landeten auf ihren Haaren – Löwenzahnsamen, Klettensamen, Ahornpropeller; wenn der Wind um eine Straßenecke bog, war er besonders heftig, trug Hüte davon und füllte sie mit Blättern, Blütenköpfen und Staub, wie Körbe. Der Wellington-Wind war ein Wind, der der Aufsicht durch das Wetter entkommen zu sein schien, wogegen unser Canterbury-Nordwestwind Teil des Wetters war und seinen Platz einhielt: kurz vor jedem Regen.
    Manchmal gab es auch Ablenkung durch das Königshaus: Könige; und Königinnen in blauen Seidenmänteln, die ihre Hüte festhielten und lächelten und sagten
    Unser Weltreich
    mein Milch-und-Honig-Teint
    euer verdammter Wind, der mich noch umwerfen wird, und
    unser großes Commonwealth, das unverrückbar dasteht. O
     Fels der Zeiten
    außer bei häufigen Erdbeben …
    Noeline und ich besuchten die Grundschule, und mithilfe von Tante Hilda und Onkel Selwyn sowie Stipendien konnten wir anschließend auf die Oberschule gehen, im Jahr, als der Krieg zu Ende ging. Es ist vielleicht nicht untypisch für mich, dass ich mich besser an die Ausstellung zur Hundertjahrfeier erinnere – ich war damals acht – als an den Krieg.
    Wir waren heranwachsende Mädchen, Alice Thumb. Schließlich heiratete Noeline und ließ sich ein paar Jahre später scheiden. Heute ist sie glücklich verheiratet, auf einer Farm im Süden. Unsere Eltern starben innerhalb von zwei Jahren, an ganz gewöhnlichen Krankheiten, denen damals niemand viel Aufmerksamkeit schenkte, während ich, gerade erst Lehrerin geworden, Roger Prestwick kennenlernte, einen jungen Journalisten, der aus England geschickt worden war, um über die Krickettournee zu berichten. Wir heirateten und ließen uns im Norden Englands nieder, am Stadtrand von Manchester; wir kamen im Januar an, als der Park gleich neben unserem trostlos-grauen, einstöckigen Haus mit einem Schorf aus Schnee und Eis überzogen war und die stürmischen Winde, die aus dem Hochmoor von Yorkshire herunterbliesen, das Gras seiner letzten Säfte beraubt

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