Auf dem spanischen Jakobsweg
kurze Wegstrecke.
Unmittelbar
hinter Itero — ich habe dort am Brunnen viel Wasser getrunken und auch etwas
gegessen — beginnt der Weg durch die schon erwähnte „Tierra de Campos“, eine
Strecke, die mein Reiseführer zu Recht als „eine der charakteristischsten
Landschaften des Jakobsweges“ beschreibt. Jetzt wird mir auch klar, was man
hier unter den — von Europa geförderten — „Entwicklungsarbeiten“ zu verstehen
hat: die Zerstörung der uralten Pilgerwege. Riesige Baumaschinen, die zum Teil
noch in der Landschaft stehen, haben hier ihr Werk bereits vollbracht. Der
uralte, historisch fast über ein Jahrtausend gewachsene, mit der Landschaft der
Meseta zur Symbiose gewordene Pilgerweg, Medium zwischen Himmel und Erde, ist buchstäblich
auf der Strecke geblieben, ist zugeschüttet, erstickt, begraben worden. Denn
auf den nachfolgenden Etappen, fast durch die gesamte Provinz Palencia, aber
teilweise auch noch in der Provinz León, hat man den alten Pilgerweg mit
breiten, öden und hochgeschotterten Pisten einfach zugeschüttet und
eingestampft. Schnurgerade zerschneiden die neuen Tangenten — wie heißt es im
Pilgerführer? — „eine der charakteristischsten Landschaften der Meseta“ oder
verlaufen über viele Kilometer unmittelbar am Rand vielbefahrener Straßen.
Diese Pisten sind oft so breit, dass kleinere Flugzeuge landen und militärische
Kolonnen in Sechserreihe nebeneinander marschieren könnten. Eines ist nun
allerdings nicht mehr möglich: Meditation. Zwangsläufig stumpft der Wanderer ab
wie der Esel, der stundenlang um den Schöpfbrunnen laufen muss, nur dass man
diesem gnädig die Augen verbindet.
Im Jahre
1987 hat der Europarat den Jakobsweg zur „Ersten Europäischen Kulturstraße“
erklärt, in feierlicher Form und mit dem üblichen Tremolo in der Stimme. Schon
heute muss man sich fragen, ob diese feierliche Proklamation dem Camino zum
Verhängnis wird, weil jetzt auch Geld fließt. Es sieht ganz so aus. Glaubt man
den Einheimischen, die zum Teil sehr empört sind, dann sind die bereits erfolgten
Verwüstungen nur ein erstes Glied in einer umfassenden Planungskette. Aber
vielleicht kümmert sich der Europarat mal wieder um sein Patenkind und
überlässt nicht alles den Geschäftemachern und Banausen. Viel Zeit hat er
allerdings nicht mehr.
Um die
Mittagszeit komme ich, nach etwa zweistündigem Marsch über diese nervtötende Piste,
in Boadilla del Camino an und habe gewaltigen Durst, meine Flasche ist schon
lange leer. Kurz vor dem Ortseingang überquere ich auf einer kleinen Brücke
einen Bach. An der Brücke, im Schatten, sitzt ein sehr alter Mann und träumt
vor sich hin. Wo werden seine Gedanken sein? In seiner Jugend? Im spanischen
Bürgerkrieg? Bei einer Frau, die er einmal geliebt hat? Bei seinen Kindern, die
schon vor langer Zeit weit weg gezogen sind? Denkt er darüber nach, wie lange
er noch zu leben hat und dass alle, die einmal seine Freunde waren, mit denen
er gelacht und geweint hat, schon tot sind? Ich gehe zu ihm hin und frage ihn,
ob es in diesem Dorf einen Brunnen gibt. Aber davon will er nichts wissen, ich
könne ruhig aus dem Bach da trinken, das Wasser sei sehr gut. Ich aber erinnere
mich an Aymerics Pilgerführer aus dem Jahre 1130, wonach es am Camino
todbringende Flüsse und Bäche gäbe, die sogar Pferde auf der Stelle umhauen
würden und ziehe es deshalb vor, in das Dorf hineinzulaufen. Ganz nahe der
Pfarrkirche aus dem 16. Jahrhundert, die aber verschlossen ist, entdecke ich
eine Bar. Beim Hineingehen sehe ich, dass dies nicht nur eine Bar ist. In dem
nach links führenden Flügel des niedrigen Hauses ist auch noch ein Krämerladen
untergebracht, in dem man, außer vielleicht Kaviar, alles finden dürfte, was
man braucht, vorausgesetzt man hat genügend Zeit, um den ganzen Verhau
durchzuwühlen. Im anderen Flügel aber, getrennt nur durch einen lockeren
Vorhang, ist die Bar eingerichtet, ein länglicher Schlauch mit ein paar kleinen
Tischen und dem gewohnten langen Tresen mit Barhockern. Alles sehr sauber und
gemütlich. Als ich dort hinein will, kommt mir von drinnen ein spanischer
Pilger entgegen, wir kennen uns schon und begrüßen uns freundlich mit „óla“ —
und im Vorbeigehen sagt er mir noch, dass sein Reiseziel „Santiago und nicht
Boadilla“ sei. Ohne den Sinn oder Hintersinn dieses Satzes verstanden zu haben,
betrete ich die Bar. Dort sitzt an einem Tisch ein französisches Paar, das uns
schon seit Roncesvalles immer wieder
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