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Auf dem Weg nach Santiago

Auf dem Weg nach Santiago

Titel: Auf dem Weg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Noel Pierre / Gurgand Barret
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Pfarrkinder mehr als ihre Religion. Sein neues Dogma ist die
Infragestellung und sein Lieblingswort der Dialog. »Tauscht ihr unterwegs eure
Gedanken aus ?« fragt er begierig. Er bereitet
frohgemut seine Ferien in Spanien vor und scheint glücklich zu sein.
    Seine Pfarrkinder folgen ihm, so gut
sie können, anscheinend besser als jene in La Souterraine (Creuse), die uns
gegenüber mit Bedauern feststellten, daß sie ihre Pfarrer nicht wieder
erkennen, die ihnen als Metzger, als Tankwart, als Weinhändler entgegentreten
und ihnen im Namen Christi »von Politik reden«. Dort war es auch, wo man uns
geradezu heimlich bat: »Betet für uns in Compostela...«
    Verdammter Marcel! Sein Glück, seine
Freiheit — eine wahre Lust zu sehen. Am anderen Morgen hat er uns gewissenhaft
wieder dorthin gebracht, wo er uns aufgelesen hatte. Als wir ohne
Hintergedanken der Vorsehung dafür dankten, ihm begegnet zu sein, hob er
endlich einmal seine Augen zum Himmel.
     
    Tagebuch P. Barret, Sonntag, 8. Mai.
    Die »Hostellerie des Landes« [Gasthof
in den »Landes« südlich Bordeaux; Anm. d. Ü.] ist überfüllt mit Menschen. Die
Männer sind vom Frühschoppen bereits erhitzt, und sie werden in Erinnerung an
den Sieg der Alliierten den riesigen Festsaal im Sturm nehmen. Sagenhaft, wie
sehr diese alten Kämpfer von 39-45 jenen von 14-18 gleichen. Wer wird ihre
Stellung einnehmen? Wie soll man so fest verwurzelte Rituale ersetzen?
     
    Tagebuch J.-N. Gurgand
    Die Landes — Niemands-Landes. Es ist doch
wirklich unglaublich, daß uns die Füße immer noch weh tun. Pierre erträgt es
besser als ich. Er »schaltet unten ab«, sagt er, und denkt an anderes. Nur ein
einziges Mal hat er verlauten lassen: »Wenn ich meinen Kopf abschalte, mache
ich keinen einzigen Schritt mehr .« Das war ganz am
Anfang. Bei mir ist es anders. Ich muß schimpfen. Ich will gern leiden, aber
man soll es wissen. Es ist verrückt, wie schnell man sich an die Schmerzen der
anderen gewöhnt. Aber die meinen sind ungerecht und empörend. Abschalten, sagst
du! Ich, ich drehe auf!
    Dagegen glaube ich, unseren heiklen
Zustand als wandelnde Zombies, die abschlägigen Antworten, die Abfuhren, die
Demütigungen besser zu ertragen als er. In dieser Hinsicht habe ich abgeschaltet. Für die Gendarmen bedeutet die Identität der Person nichts
anderes als ein behördliches Papier. Während man unsere Namen buchstabiert,
gehen wir unserer Titel, unseres sozialen Status, unserer Freunde verlustig.
Ich gewöhne mich an diesen jähen Identitätsschwund um so leichter, als ich eine
ganz keltische Schwäche für das immer wieder auflebende Nichts habe. Ich
versuche, mich zu überreden, daß alles ganz normal sei und daß wir beim Auf
bruch nach Compostela das Risiko auf uns genommen hatten als andere
zurückzukommen.
     
    Gemeinsames Wegtagebuch, Freitag, 13. Mai.
    Saint-Jean-Pied-de-Port. Von Saint-Sever
ab zeigten Schilder den Weg nach Santiago an. Zwei- oder dreimal erkannten
Leute an unseren Jakobsmuscheln das Wahrzeichen des Wallfahrers; sie kamen
heran und wünschten uns freundlich gute Reise, luden uns sogar zu sich ein. Wir
fangen endlich an, uns als Pilger zu fühlen. Es war Zeit; wir haben ja schon
die Hälfte des Weges hinter uns.
    An der spanischen Grenze versuchten
wir, Bilanz zu ziehen. Am leichtesten war es noch, die Tage und die Namen
aneinanderzureihen. Wir haben zum Beispiel die Yonne überquert, die Loire, den
Cher, die Indre, die Creuse, die Vienne, die Dordogne, die Garonne, die beiden
Gave... Achthundert Kilometer... Sind wir ebenso weit vorangekommen?
    Es sind Kleinigkeiten, die wir
gesammelt haben, etwa jener Zufall, da wir uns an eine gewisse Madame Fontaine
[»Brunnen«; Anm. d. Ü.] wandten, als wir zum erstenmal um Wasser baten... Eines
Morgens im Wald von Châteauroux der Ruf des Kuckucks in drei Tönen:
kuckuckuck... Das Transparent für das große internationale Frauen-Radrennkriterium
der Spargelzüchter des Dropttals... Jener umgedrehte Wegweiser zwischen Duras
und La Reole, der uns in aller Ruhe das Dorf anzeigte, aus dem wir gerade
herkamen...Jener neblige Morgen, da alle Tiere heiser waren: Ein Hahn schrie
kikerikua, ein Hund heulte wie eine Robbe, eine Kuh muhte, als stecke ihr ein
Frosch im Hals...
    Natürlich stand uns noch Spanien bevor.
Man hatte uns versichert, das sei wie in Bunuels Milchstraße: Wir würden
ganz einfach Gefahr laufen, in die Vergangenheit zurückzukehren und uns
schließlich im finstersten und völlig unromantischen

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