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Auf dem Weg nach Santiago

Auf dem Weg nach Santiago

Titel: Auf dem Weg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Noel Pierre / Gurgand Barret
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Mittelalter
wiederzufinden.
    Man würde ja sehen. Inzwischen galt es,
gleichsam als Aufnahmeprüfung, die Pyrenäen zu übersteigen. Wir hatten nicht
ohne Besorgnis beschlossen, das enge Eingangstor, nämlich den alten Höhenweg,
zu benutzen — »eine großartige Wanderung bei schönem Wetter«, so hatte man uns
erklärt, »aber eine scheußliche Sache, wenn das Wetter umschlägt«.
    Die Berge schauten schlecht aus am
Morgen. Wir brachen trotzdem auf. Wir erreichten den Kastanienbaum von
Etchebestia, ein Riesending, das da seit Ludwig dem Heiligen stehen soll. Es
begann zu regnen. Der Weg stieg steil an. Ein zahnloser Schäfer stand plötzlich
da und schaute uns neugierig an. »Adiou«, sagte er. Wir drangen in eine bleiche
Wolke, weich wie Gänseflaum, ein. Eine weiße Dunkelheit, die alles auswischte.
Wir sahen nicht einmal mehr unsere Füße.
    Endlich tat sich etwas. Der alte Weg
der Gotteswanderer hielt sein Versprechen. Auf der spanischen Seite begann er
zwischen zwei Abgründen: Wir brauchten uns nur aufs Geratewohl durch das Nichts
zu tasten, um den Ausgang zu finden.
    »Wer [die Pyrenäen auf dem Höhenweg]
hinaufsteigt, meint den Himmel mit Händen berühren zu können«, so schreibt
Aymeri Picaud ganz hingerissen, als er um 1130 hier durchkommt. Wir hätten uns
an diesem Himmel ebensogut den Schädel einstoßen können. Seit Stunden stiegen
wir hier in diesem dicken Nebel, der alles auslöschte, blindlings weiter.
    Ein eisiger Regen peitschte uns
geradewegs ins Gesicht. Wir fingen an zu zittern und mit den Zähnen zu
klappern. Wir mußten unbedingt anhalten, hier, ganz gleich, wo, und uns mit
Rotwein und Ziegenkäse aufwärmen.
    Unsere vom Regen aufgeweichten Karten
wurden immer unleserlicher. Jede Abzweigung stellte alles in Frage. Wir spähten
vergeblich nach irgendeinem Anhaltspunkt. Einer unserer Pläne vermerkte: »Sehr
schöne Aussicht auf die Schlucht von Soussignate .« Wo
denn? Links? Rechts? Da vorn? Aussicht IWmtev jedem Felsvorsprung
lauerte ein Windstoß auf uns, warf uns hin und her, versuchte uns
hinunterzustürzen.
    Früher riefen am Ibanetapaß und beim
Kloster von Roncesvalles Glocken die im Nebel Verirrten auf den Weg. Wir
konnten uns die Mönche vorstellen, wie sie sich an den dicken Glockenseilen
ablösten, und sogar — die Spuren schienen uns noch so frisch — die Hauptleute,
wie sie die Legionäre Trajans anfeuerten, oder die Soldaten von Marschall
Soult, die im Schneesturm die Kanonen auf knarrenden Achsen vorwärtsschoben,
oder auch Roland, der den Felsen spaltet und Karl den Großen herbeiruft... Doch
wir waren mutterseelenallein mit unseren Phantomen, und die Glocken schwiegen.
    Zuweilen zerriß plötzlich ein
Nebelfetzen, und das Gebirge machte ein freundliches Gesicht. Zartes,
kurzgewachsenes Gras, übersät mit Kamillenblüten, großer, stiller Buchenwald,
mit jenem übernatürlichen Licht überflutete Almen, wie es die Religionsbücher
unserer Kindheit den heiligen Szenen zuschrieben... Und von neuem zog sich
alles zu... schlechtes Pilgerwetter...
     
    (Lassen wir sie; sie werden schon
durchkommen — freilich nicht ohne irrtümlich auf den verschneiten Gipfel des
1578 Meterhohen Urzanzurieta hinaufzukraxeln, dessen modernes Wahrzeichen, der
Mast, ihnen erst zu Gesicht kam, als sie schon mit der Nase darauf stießen.
    Wie soll man es erklären, daß ihnen niemals
Zweifel kamen? Das Gebirge ist voller Launen und hat schon andere in Schrecken
versetzt, auch wenn es nicht der Mount Everest ist. Die einzig mögliche Antwort
ist diese: Sie waren überzeugt, ihr »Eintrittsgeld« zahlen zu müssen, eine Art
Spiel, bei dem man alles einsetzen muß.)
     
    Als wir am Abend zur Stunde der
Wadenkrämpfe vor dem Kaminfeuer in einem kleinen Hotel in Burguete saßen,
drehte sich die Unterhaltung um zwei Themen.
    Erstens: die Absage des Klosters von
Roncesvalles, eines der größten Pilgerhospize des Mittelalters, wo man noch im
17. Jahrhundert dreißigtausend Essen im Jahr servierte. Zuerst waren wir in
Gebäuden herumgeirrt, die ebenso gastlich und gut dreimal so groß sind wie ein
ausgedienter Bahnhof; endlich stießen wir auf einen spanischen Chorherrn; er
entwischte uns aber wieder wie ein Steinmarder und verschwand unter einem
Torbogen. Weiter! Ultreia ! Trocknet euch anderswo! Wir machten uns mit einem bitteren Gefühl wieder auf den Weg.
Von Roncesvalles hatten wir viel erwartet wie alle, die seit zehn Jahrhunderten
das Rolandslied kennen.
    Zweitens: unser heimlicher Einzug

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