Auf dem Weg nach Santiago
man mit ihnen wirklich nicht in Frieden leben konnte; Delorme
verriet mich bestens, da er ihnen unseren beiderseitigen Entschluß zutrug .« Nach Irún scheint der Bruch besiegelt: »Wir hatten einen
heftigen Streit und gingen auseinander. Sie blieben beisammen, und ich war
allein .«
Manier geht also allein weiter. Die
anderen aber holen ihn ein: »Wieder wanderten wir alle vier gemeinsam .« Sie verirren sich sogar alle zusammen vor Santo Domingo
de la Calzada, finden aber die Straße nach Burgos wieder — und jetzt geht es
wirklich nicht mehr: »Delorme, dieser Verräter, hatte dem Hermand
eingeflüstert, ich wolle ihn verlassen, wobei er verschwieg, daß er selbst
damit einverstanden gewesen war und ich mit ihm gehen sollte. Hermand suchte
also Streit mit mir; es kam zur Schlägerei. Da mir Hermand ein paar Hiebe
versetzte, schlug ich auf seinem Rücken meinen Pilgerstab entzwei. Wäre nicht
ein französischer Kesselflicker herangeeilt, es hätte schlimm ausgehen können.
Trotzdem haben wir den Ort als gute Freunde wieder verlassen .« Die ziemlich ungewisse Wiederversöhnung geschieht auf Kosten Delormes; jetzt
ist er an der Reihe, allein vorauszugehen. 64
In den Archiven von Bordeaux findet man
die Klage eines Einwohners von Genf mit Namen Jehan-Andre Falques gegen seinen
Gefährten, der ihn nicht nur unterwegs im Stich gelassen hat, sondern auch noch
seine Wechselbriefe mitgehen ließ. 65
Der kleine Bonnecaze aber durchlebt
schwere Zeiten. Immer noch geht er barfuß. Das Nasenbluten hört nicht auf.
»Alles drückte mir aufs Gemüt, der Regen, das Elend, der Hunger. Meine
Kameraden hatten genug von mir und fürchteten, ich würde unterwegs noch sterben .« Aber dieser kleine Bonnecaze ist ein Dickkopf. Er gibt
nicht auf. Er geht weiter. »Als wir in Viana angekommen waren, fühlte ich mich
sehr schwach; ich hatte ja viel Blut verloren und litt auch an dem ganzen Elend
Tag für Tag. Und da ich nur langsam vorankam, war ich meinen Kameraden eine
wahre Last; sie wollten nicht mehr auf mich warten .«
Ein jeder der Gruppe geht in diesem
Städtchen in ein anderes Viertel, um Almosen zu erbitten. Bonnecaze bleibt auf
der Hauptstraße und wartet am Ortsausgang von Viana auf seine Gefährten. Er
wartet bis in die Nacht hinein. Vergeblich. Er schläft an Ort und Stelle. Am
anderen Morgen erfährt er, daß seine Kameraden einen anderen Weg, den durchs
Gebirge, eingeschlagen haben. »Sie hatten mich aufgegeben«, stellt er lakonisch
fest. Und geht allein weiter. 66
Die kleinen Friedhöfe am Wegrand sind
voll von solchen erschöpften, kranken Pilgern, verlassen von den Ihren oder
aber auch selbst sich aufgebend, mitten im duftenden Thymian und umhaucht vom
warmen Geruch der Schafe am Rande des großen Weges. Einige Tagesmärsche vor dem
Ziel Santiago de Compostela liegt Villafranca. Seine Jakobuskirche besitzt das
Sonder privileg, denen, die nicht weiter kommen als bis an ihre Schwelle aus
grauem Granit, dieselben Ablässe zu gewähren, die sie in Compostela selbst
erworben hätten. Diese Pilger erleben das größte aller Abenteuer: Sie sind am
Ende ihrer selbst, ohne am Ende des Weges zu sein.
sechstes
kapitel
SCHÜTZENDE RITTERORDEN
Recht auf Gastfreundschaft und
rücksichtsvollen Empfang — Wunderbare Feuersbrunst — Guillaume
und Escrivette — Wie die Kaufleute — Diebstahl mit Hilfe von Drogen —
Schlechte Leute — Gewicht und Maß — Das Erbe des Pilgers — Cluny
gibt das Beispiel — Unsere Herren Kranken — Das Schwert des
heiligen Jakobus — Honig für die Mitbrüder
D er Weg drückt auf Beine und Schultern,
besonders am Abend. Regen, Wind, Sonne — wie gewöhnlich. Seit heute morgen
hatten Sie nichts zu essen als das Brot in Ihrem Beutel, und Sie fangen an, den
Horizont nach der Raststätte für die nächste Nacht abzusuchen. Ein Wirtshaus?
Eine Herberge? Ein Dorf? Wie weit ist der Weg noch? Wird es Platz geben? Wird
man mich aufnehmen? Sie haben ein Recht auf die Güte aller, aber...
»Die
Pilger, die von Santiago kommen oder dorthin gehen«, so erklärt Aymeri Picaud,
»seien sie arm oder reich, sollen von allen mit Liebe und Rücksicht aufgenommen
werden; denn jeder, der sie mit Eifer aufnimmt und beherbergt, bei dem ist
nicht nur Sankt Jakobus zu Gast, sondern unser Herr selbst, wie es im
Evangelium heißt: ›Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf‹ [Mt 10,40]. Es gibt
viele, die einst den Zorn Gottes auf sich herabriefen,
weil sie die Jakobuspilger
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