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Auf den ersten Blick

Auf den ersten Blick

Titel: Auf den ersten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Wallace
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Zucker wollte oder nicht.
    »Nein danke!«, rief sie aus dem Schlafzimmer, und etwa eine Fünftelnanosekunde später flog Devs Tür auf, und sein Kopf kam heraus, wie ein Erdmännchen, das meint, es hätte einen Löwen gehört.
    »Was war das? «, sagte sein Mund lautlos.
    »Das war Abbey«, antwortete mein Mund ebenso lautlos, und sobald der erste Schreck verflogen war, tappte er in seiner Unterhose zu mir herüber.
    »Das ist ja großartig«, sagte er. »Bravo.«
    »Ist nichts passiert«, sagte ich, und er machte ein Gesicht, als wünschte er, ich hätte das für mich behalten.
    Aber es war wirklich nichts passiert. Es hatte keinen Kuss gegeben. Mir schien, es gab so manchen Jungen, der Abbey nicht geküsst hatte.
    »Gehen wir frühstücken – auf deine Kappe?«, sagte er. »Denn wenn ja, muss ich dir unbedingt was erzählen …«
    In meinem Schlafzimmer, mit meinem Kissen im Rücken und einem T-Shirt, das sie auf meinem Fußboden gefunden hatte, tippte Abbey auf mein Notebook ein.
    »Dein Facebook war noch offen«, sagte sie mitfühlend und deutete auf den Bildschirm. »Willst du es wissen?«
    »Was wissen?«, sagte ich und stellte dabei ihren Tee auf dem Boden ab.
    »Sarah ist gerade dabei …«, sagte sie und forderte mich auf, die neue Statusmeldung selbst zu vollenden. Ich zuckte mit den Schultern.
    »… Kleider anzuprobieren.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also zuckte ich wieder nur mit den Schultern.
    Hochzeitskleider? Umstandskleider? Ihre Statusmeldung informierte mich über Dinge, die ich nicht wissen wollte, und warf Fragen auf, die ich nicht beantworten konnte.
    Aus unerfindlichem Grunde dachte ich an Mum. Sie nahm unsere Trennung schwer. Liebend gern hätte sie Sarah jetzt beim Hochzeitskleid oder bei der Auswahl von Umstandskleidern beraten und den Tag geplant, der sie einmal mehr zur Groß- und Schwiegermutter machen würde.
    »Ach, Jason«, hatte Mum traurig gesagt, am Telefon, an dem Abend, als ich es ihr erzählte. »Was nun? Was soll denn jetzt werden?«
    Und alles nur wegen dieser blöden Sache – nur eine blöde Sache, aber dennoch eine Sache. Und wäre ich ein schlechterer Mensch, würde ich dem Jungen die ganze Schuld geben, diesem zornigen, aggressiven Jungen an der Schule. Rassist natürlich, wenn auch ohne zu wissen, wieso, und wütend auf die Welt, aber im Grunde nicht mehr als ein potenzieller Kleinkrimineller unter vielen. Aber ich klinge hier verbittert, und ich klinge schon wieder wie ein Snob, aber ich frage Sie: Wie könnte ich anders, nachdem Dylan getan hat, was er getan hat? Und als er es tat, musste ich weg. Mein Entschluss war nicht leichtfertig, und egal was Sarah Ihnen auch erzählen mag, ich habe diese Entscheidung nicht übereilt getroffen. Sie hat es nicht verstanden. Es war mir unbegreiflich. Das Mädchen, mit dem ich schon so lange zusammen war, hat es einfach nicht verstanden.
    Eines Tages beschloss Dylan, dass er einen Lehrer töten wollte.
    Ich weiß, es klingt melodramatisch. Aber ich weiß es, denn so stand es im Polizeibericht. Er hatte es nicht geplant, er schien es vorher nie gewollt zu haben, er traf einfach den Entschluss. Und so war er eines Mittags nach Hause gegangen, in die Mietskaserne gegenüber vom St. John’s, mit Blick auf den Schulhof, und mit seinem Kumpel Spencer Gray hatte er das Luftgewehr seines Bruders geladen und auf das Klassenzimmer gezielt, das ihm am nächsten war und in dem zufälligerweise gerade ich der neunten Klasse erklärte, was eine »Spinning Jenny« ist.
    Erst war es nur ein Blitz. Nur ein winziges Etwas, das ich im Augenwinkel sah, und ein leiser Knall. Ich hatte weitergemacht, doch da war es schon wieder, wie ein Glühwürmchen oder eine winzige Sternschnuppe, die durch das Zimmer schoss, direkt vor den Schautafeln zum Thema Fruchtwechsel und Brachland.
    Ich sah aus dem Fenster, sah das Loch, klein und rund, und ich weiß noch, dass ich anfangs dachte, jemand hätte eine Erbsenpistole dabei, aber Erbsen machen keine Löcher ins Glas, und heutzutage spielen die Kinder auch nicht mehr mit Erbsenpistolen, und dann – obwohl ich es kaum glauben konnte – wurde mir langsam bewusst, was vor sich ging …
    Schlussendlich waren vierzig Polizisten angerückt. Die Kinder waren begeistert gewesen, pressten die Gesichter an die Scheiben, bestaunten die Waffen und schusssicheren Westen, als wären das Nachrichten im Fernsehen, nicht das wahre Leben an einem grauen Nachmittag im Norden Londons. Ich hatte es geschafft, alle

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