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Auf den ersten Blick

Auf den ersten Blick

Titel: Auf den ersten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Wallace
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rauszubrin gen, still und vernünftig, und im Grunde hatte er gar keine Chance gehabt, jemanden zu verletzen, nicht mit einem solchen Luftgewehr, aber dennoch hatten die Absicht, die Vorstellung, die Trauer, die Wut und der Hass ihre Wirkung auf mich nicht verfehlt, und erst als ich an diesem Abend meine gefüllten Pancakes und eine Flasche Rioja intus hatte, wurde mir bewusst, was da passiert war. Und ich weinte. Aber ich weinte nicht nur, sondern ich heulte wie ein Baby, bis ich bibberte und sabberte und keine Luft mehr bekam.
    Anfangs war Sarah voller Mitgefühl gewesen, voller Wärme. Sie hatte es so eingerichtet, dass sie den Rest der Woche frei hatte, und auch ich gönnte mir ein paar Tage Auszeit, doch der Schock fraß die Stunden auf, bevor ich wusste, wo sie geblieben waren. Ich wurde wachsam und misstrauisch und nervös. Ich wollte zu Hause bleiben, in Sicherheit, mich trösten lassen vom Perfekten Dinner oder Watchdog oder irgendwas, das Normalität darstellte. Nach einer Weile ließ Sarahs Mitgefühl nach, was vielleicht normal ist.
    »Meine Güte, er ist doch noch ein kleiner Junge«, hatte sie eines Abends gesagt, als wir uns gerade bereit machten, den vierten oder fünften Streit des Tages anzustimmen. »Er wusste nicht, was er tat! Es war nur ein klitzekleines Luftgewehr!«
    Und inzwischen begreife ich ihren Frust. Damals konnte ich das nicht. Ich war so sehr in mir selbst gefangen, in mir – dem Opfer. Und vielleicht versuchte sie nur das, was ihre Mutter immer vorschlug – mich mit Gewalt dazu zu bewegen, dass ich endlich damit aufhörte. Aber man kann nicht so einfach damit aufhören. Ich hatte an diesem Tag die Verantwortung. Ich war der Lehrer, den Dylan ausgesucht hatte. Ja, nur weil ich in diesem Moment zufällig in dem Klassenraum gegenüber von der Mietskaserne stand, aber es war genau diese Wahllosigkeit, die mir solche Angst machte und bewies, dass die Welt gefährlicher war, als ich gedacht hatte.
    Und ich war wütend. Ich war wütend auf Dylan, wütend auf die Welt, wütend auf Sarah, weil sie von mir als Mann enttäuscht war, ob das nun stimmte oder nicht. Tatsache ist, dass sich mein Leben änderte, als Dylan dieses Gewehr anlegte. Ich denke, in gewisser Weise hat er an diesem Tag tatsächlich einen Lehrer getötet. Mit Sicherheit hat er eine Beziehung getötet.
    Obwohl, nein.
    Nein, dafür übernehme ich selbst die Verantwortung.
    »Okay …«, sagte Abbey und unterbrach mich in meinen Gedanken. »Ich hab sie gelöscht.«
    »Hmm?«, machte ich.
    »Ich hab sie gelöscht. Es ist nicht fair von ihr. Sie weiß, dass du das Zeug hier lesen kannst und dass es dir wehtun muss, also habe ich sie aus deinem Freundeskreis gelöscht.«
    Ich lächelte, dachte, es sei ein Scherz, denn sie machte diese Gänsefüßchen mit den Fingern, als sie »Freundeskreis« sagte, doch sie nahm nur einen Schluck von ihrem Tee und klickte weiter herum.
    »Du … entschuldige, du hast was gemacht?«
    Sie sah zu mir auf, unschuldig, und zuckte mit den Schultern.
    »Es ist besser so. Vertrau mir.«
    Ihr vertrauen? Ich kannte sie ja kaum.
    »Abbey … warum zum Teufel machst du so was?«
    Inzwischen war ich richtig sauer.
    »Du weißt doch gar nichts über mich! Wie könnte ich dir in dieser Frage trauen? Du bist Sarah nie begegnet, du weißt nicht, was du redest, und jetzt löschst du sie einfach? Sie wird es merken! Sie wird sehen, dass ich sie gelöscht habe!«
    Ich konnte es nicht fassen.
    »Hast du eigentlich eine Ahnung, wie das aussieht? Du kannst nicht einfach so mit dem Leben anderer Menschen umspringen. Du kannst hier nicht einfach reinkommen und meinen Computer benutzen und mich zum Idioten machen. Gerade war ich dabei, mit ihr alles zu klären, und jetzt das.«
    Ich bin ein höflicher Mensch, selbst wenn man mich ärgert, und es ist schrecklich, wenn man dafür sorgt, dass jemand sich schrecklich fühlt, aber im Moment musste Abbey mal gesagt werden, dass sie zu weit gegangen war. Wir haben uns zweimal nett getroffen, und schon meint sie, sie kann sich einmischen?
    »Das musste mal gesagt werden, Abbey, und …«
    »Jason. Du brauchst das nicht.«
    Ich stutzte. Sie starrte mich an.
    Du brauchst das nicht. Vier einfache Worte, für sie.
    »Du musst loslassen. Du hast es vermasselt, aber wenn du nicht loslässt, wirst du nie wieder etwas Gutes zustande bringen. Du bist ein Schatz, Jason, auf deine ganz eigene Weise, aber du bist angeschlagene Ware. Und du darfst dich nicht auf diese eine Sache reduzieren

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