Auf den Flügeln des Adlers
stand, ohne wegen seines Ungehorsams auch nur die geringste Reue zu zeigen.
»Mit der Bullenpeitsche sollte ich dir eins überziehen«, schimpfte er.
»Tu das, Dad«, erwiderte Saul, »aber schick mich nicht wieder weg.«
Einen kurzen Moment lang funkelten sich die beiden an, bis Bens Blick weich wurde. Er wollte nicht, dass sein Sohn sah, wie Tränen in seine Augen traten. »Geh und hol dir was zu essen«, sagte er daher. Dann wandte er sich hastig ab und stürmte über den staubigen Hof davon. »Teritubas Frau wird sich um dich kümmern.«
Auf halbem Weg über den Hof blieb er stehen und drehte sich zu seinem Sohn um, der auf den Rücken seines Vaters starrte. Irgendwie hoffte er, dass ihm der schroffe Mann entweder eine Tracht Prügel versetzte oder ein freundliches Wort für ihn fand. »Schön, dass du wieder da bist, Sohn«, meinte Ben, »aber wenn du ein Viehzüchter werden willst, anstatt mit deinem Bruder und deiner Schwester in Townsville zur Schule zu gehen, musst du hart arbeiten.«
Am liebsten wäre Saul zu seinem Vater gelaufen und hätte ihn mit der ganzen Liebe, die er für den hoch gewachsenen Mann empfand, umarmt, aber das wäre kindisch gewesen. Stattdessen ging er mit hüpfendem Herzen zu der Rindenhütte, in der Teritubas Frau und Sohn auf ihn warteten.
In den Tagen, die nun folgten, fand Saul in Teritubas Sohn einen Freund. Ihre gemeinsame Liebe zum Busch überbrückte bald die Kluft von Sprache und Rasse. Und Terituba und sein Sohn waren ihm bessere Lehrer als alle anderen, was das Leben in einem Land anging, das sich den Europäern, die von jenseits des Meeres gekommen waren, so feindselig zeigte.
Oft beobachtete Ben, wie die beiden Jungen im Schatten der Bäume um die Hütte saßen und in einer Mischung aus Englisch und Kalkadoon schwatzten, nachdem sie gemeinsam den Busch nach Kleinwild für den Kochtopf durchstreift hatten. »Vielleicht war’s doch richtig, dass der Junge zurückgekommen ist«, murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin. »Aber er muss lesen und schreiben lernen …« Dazu musste er ihm die Grundbegriffe des Rechnens und das Alphabet beibringen, das war Ben klar. Wenn Saul Jerusalem einmal leiten sollte, reichte es nicht aus, dass er den Busch gut kannte.
34
Der Regen prasselte monoton auf das Wellblechdach des baufälligen Speisehauses in einem Winkel des Chinesenviertels von Sydney. Männer mit Zöpfen saßen dicht gedrängt um die Tische und spielten Mah-Jongg. Das Klicken der Bambus- und Elfenbeinsteine, die umgedreht und auf den Tisch geworfen wurden, klang wie das Zwitschern von Spatzen. Andere Gäste des Lokals hielten Essschalen dicht vor den Mund und tauchten Stäbchen in die dampfenden, schmackhaften Nudelgerichte. Dabei warfen sie den beiden europäischen Barbaren, die sich an einem Tisch in einer Ecke niedergelassen hatten, immer wieder neugierige Blick zu. Sehr zur Überraschung des Wirts, eines untersetzten Fukien-Chinesen, dessen helle Haut wegen der Hitze, die in der winzigen Küche herrschte, von Schweiß glitzerte, hatte der Ältere der beiden in fließendem Chinesisch bestellt. Der feindselige Ausdruck auf dem Gesicht des Chinesen war sofort verschwunden, und er war davongeeilt, um für sie seine besten Nudeln zuzubereiten.
Als das Essen serviert wurde, griff Horace nur zögernd zu, aber Michael stürzte sich geradezu auf die Speisen. Es war lange her, dass er Chinesisch gegessen hatte.
Nach der dritten Schale Nudeln, die raffiniert mit geräuchertem rotem Schweinefleisch und Gemüse abgeschmeckt waren, wischte er sich den Mund am Hemdsärmel ab und lehnte sich zurück, um den Freuden des Mahls nachzuspüren. »Noch mehr, alter Junge?«, fragte Horace, aber Michael schüttelte den Kopf.
»Für den Augenblick habe ich genug«, gab er zurück. »Vielleicht später.«
Horace stellte seine Schale auf den Tisch und seufzte zufrieden. »Ich vermisse die Freuden der Küche von Fukien«, gab er zu, während er sich mit einem sauberen Taschentuch den Mund betupfte. Servietten schienen in dem Lokal unbekannt zu sein. »Bei einem chinesischen Bankett zu sterben wäre ein schöner Tod.«
»Ist es so schlimm?«, fragte Michael offen.
Horace nickte. »So schlimm, alter Junge«, erwiderte er traurig.
»Haben Sie deswegen meine Mission in Sydney abgeblasen?«, fragte Michael leise.
Horace blickte ihn eindringlich an. »In gewisser Weise«, antwortete er schließlich. »Den Tod vor Augen zu haben ist ein guter Grund, über die eigenen Taten nachzudenken.
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